Das Land der großen Unterschiede

4. Juli 2012

Das erste Handbuch zur Geschichte von Rheinland-Pfalz ist da. Bisher gab es so ein Werk noch nicht, 40 Autorinnen und Autoren eroberten hier Neuland. Mitherausgeber Prof. Dr. Michael Kißener, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), und Dr. Pia Nordblom, Koordinatorin der Handbuch-Arbeitsstelle an der JGU, erzählen von den Herausforderungen des Mammutprojekts.

Handlich ist es nicht geworden, das Handbuch Kreuz, Rad, Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte. Allein der zweite Band wiegt mehrere Kilo. Auf 846 Seiten beleuchtet er die Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart: reich bebildert, mit modernem Kartenwerk und Beiträgen, die es so in einer Landesgeschichte noch nie gab.

"Wir sind erschöpft", sagt Prof. Dr. Michael Kißener. Der Professor für Zeitgeschichte an der JGU ist einer der Herausgeber des Handbuchs. Nun sitzt er an einem kleinen runden Tisch in seinem Büro neben Dr. Pia Nordblom, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar und seit 2007 Koordinatorin der Arbeitsstelle "Handbuch der Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz". Beide schauen auf das druckfrische Werk vor ihnen und wirken alles andere als erschöpft. Im Gegenteil, sie haben einiges zu erzählen.

Eine Herausforderung für die Autoren

"Es ging schon damit los, dass es gar nicht so einfach war, Autoren zu finden, die sich der Aufgabe stellten", erinnert sich Kißener. "Wir sprechen hier von unterschiedlichen Territorien, die so unterschiedlich in der Erforschung sind, dass man bisweilen bis an die Quellen gehen muss." Während etwa die pfälzische Geschichte gut aufgearbeitet sei, gebe es in der Historie des Westerwaldes reichlich weiße Flecken.

Der heterogene Forschungsstand kann kaum verwundern, schließlich handelt es sich um ein höchst heterogenes Land. Die Grenzen, die 1949 bei der Gründung von Rheinland-Pfalz gezogen wurden, waren willkürlich gewählt und hatten nichts mit der Geschichte zu tun. Nach dem Wiener Kongress 1815 etwa gehörte die Eifel zum Königreich Preußen, in der Pfalz regierten die Bayern, Mainz war hessisch.

Ein irrsinniges Land beschreiben

"Rheinland-Pfalz ist auch in struktureller Hinsicht und von seiner Aufteilung her irrsinnig", stellt Kißener klar. Deswegen kam es für die 40 am Handbuch beteiligten Wissenschaftler gar nicht in Frage, hier irgendeine weit zurückreichende Einheit herbeizudichten. "Klassische Historiker würden sagen, wir hätten drei Bücher schreiben sollen: eine hessische, eine bayrische und eine preußische Geschichte", sagt Nordblom. "Aber in dieser Herausforderung lag für uns das Reizvolle. Wir mussten die verschiedenen Territorien immer nebeneinander sehen."

Kißener ist Mitglied der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz. Dieses Gremium beschloss 2003, zum 65. Geburtstag des Landes das erste Handbuch zu Rheinland-Pfalz herauszugeben. Erst sollten es sechs Bände werden, dann entschied man sich für die übersichtlichere Zahl drei. Eine breitere Leserschaft sollte angesprochen werden. Das wünschten sich nicht nur Landtag und Staatskanzlei, die das Projekt mit 300.000 Euro unterstützten, auch die Autoren setzten sich dieses Ziel.

Ein Landauer erfindet Santa Claus

"Die Schreibweise war für viele von uns schwierig, manchmal sogar eine Verlusterfahrung", sagt Nordblom. "Wir brachten Anekdoten ein, um Dinge plastischer zu zeichnen, mussten dafür aber anderes weglassen." Um nur eine der Anekdoten zu nennen: Der Künstler, der Santa Claus schuf, kam aus Landau. Thomas Nast interpretierte den Belzenickel aus seiner Heimat so um, dass Coca-Cola 1931 nicht widerstehen konnte. Der bärtige Kerl kam über den großen Werbefeldzug der Limonade in die Welt und damit auch zurück nach Landau.

Natürlich geht es im Handbuch selten um solche Kleinigkeiten. Band drei, herausgegeben vom Statistischen Landesamt, ist randvoll mit Zahlen. Hier findet sich so ziemlich alles, was je statistisch erfasst wurde, ob Altersstruktur oder Herkunft der Bevölkerung, Wahlergebnisse oder Weinernten. Band zwei liegt auf dem Tisch vor Kißener und Band drei, der die Geschichte bis 1800 behandelt, wird im September zum großen Historikertag in Mainz erscheinen. "Wir sind gerade dabei, die vom Mittelalter zu bremsen", formuliert Nordblom salopp, "damit ihr Band nicht noch dicker wird als dieser hier."

Unterschiede von Region zu Region

Für Band zwei schrieb Kißener zwei einleitende Kapitel und skizzierte die Grundzüge der historischen Entwicklung von den Franzosen am Rhein über die Neuordnungen durch den Wiener Kongress, die Revolution und die Weltkriege bis in die Gegenwart. "Mich interessieren die enormen Unterschiede von Region zu Region. Während in Koblenz und Trier der Kulturkampf tobt, der Bischof in Trier 1874 im Knast sitzt, sitzt in Birkenfeld ein katholische Priester plaudernd neben einem preußischen Landrat."

Nordblom widmete sich sich der Wirtschaftsgeschichte. Eigentlich hoffte sie, in den entsprechenden Abhandlungen über Bayern, Hessen oder Preußen Material zu finden. Doch für diese Staaten waren die Territorien im heutigen Rheinland-Pfalz Peripherie und damit kaum eine Seite wert. "Sie galten als die Armenhäuser. Gerade hier allerdings passierte unheimlich viel." Was passierte, ist nachzulesen im Handbuch.

Ein Anfang, kein Endpunkt

Dort kommen auch Aspekte zur Sprache, die sonst keinen Eingang in ein solches Werk finden. So beschäftigte sich Dr. Andreas Linsenmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der JGU, mit den Außenbeziehungen des Landes. Und die Volkskundler nahmen die Alltagskultur unter die Lupe, darunter die vielgestaltigen Feste in Rheinland-Pfalz.

"Das Handbuch ist ein Anfang, kein Endpunkt", stellt Nordblom klar. Es klaffen Lücken, das ist selbstverständlich bei so einer ersten Bestandsaufnahme. Doch schon haben sich Folgeprojekte formiert, um einige dieser Lücken zu schließen. Zwei Bespiele: Ein Arbeitskreis, unterstützt vom Landtag, setzt sich mit der Wirtschaftsgeschichte nach 1945 auseinander und Boehringer Ingelheim sponsert ein Projekt, das die Geschichte des Pharmaunternehmens im Nationalsozialismus beleuchtet.

Historikertag mit Rheinland-Pfalz-Meile

"Ein weiterer Nebeneffekt ist die Vernetzung von historisch arbeitenden Landeseinrichtungen", erzählt Nordblom. Zum Statistischen Landesamt oder zum Landesvermessungsamt bestehen nun rege Kontakte und auch der SWR sitzt mit im Boot. Der Sender steuerte eine CD mit rund 50 historischen Filmdokumenten bei. "Beim Historikertag im September wird es eine Rheinland-Pfalz-Meile geben", verspricht die Historikerin. "Das ist das erste Mal überhaupt, dass bei einem Historikertag ein landesgeschichtlicher Ausstellungsschwerpunkt dabei ist."

"Je globalisierter unsere Welt wird, desto größer ist das Bedürfnis, sich regional zu verorten", ist Kißener überzeugt. Dieses Bedürfnis scheint auch in Rheinland-Pfalz groß zu sein. Die 3.000er-Auflage des Handbuchs ist beim Verlag inzwischen ausverkauft. Ein Druckkostenzuschuss von Landtag und Staatskanzlei half, den Preis niedrig zu halten.

Keine Einheit herbeidichten

Nordblom freut sich: "Ich habe mit weißhaarigen, pensionierten Studienräten als Leser gerechnet, aber junge Leute interessieren sich genauso dafür." Das ist sicher auch dem Konzept geschuldet. Kreuz, Rad, Löwe ist für Laien verständlich und spannend geschrieben. Eine reiche Bebilderung macht vergangene Epochen anschaulich, die Karten sind in ihrer Art bisher einmalig, überraschende Blickwinkel sind zu finden und wer mag, kann auch Filme zur Historie schauen.

Wichtig bleibt dabei: Die Autoren versuchen erst gar nicht, Rheinland-Pfalz zur Einheit zu schreiben. Sie sehen die Stärke und die Chancen des jungen Bundeslandes gerade in seiner Heterogenität, seinen Verbindungen nach außen. "Das ist kein Defizit, sondern etwas, aus dem man Kapital schlagen kann", sagt Nordblom. Nun ist also der Leser dran – falls er noch ein Exemplar ergattern kann. Denn das unhandliche Handbuch ist begehrt. Neugierige sollten sich eilen.