30. Mai 2016
Die Entstehung von Emotionen stand im Mittelpunkt des fünften Teils der Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün, Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2016. Im größten Hörsaal auf dem Gutenberg-Campus sprach der Bochumer Biopsychologe vor allem über eine Emotion: die Angst.
Nur zu gern würde er von den angenehmen Gefühlen erzählen. "Aber ich werde heute Abend hauptsächlich über die Angst reden", kündigt Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Onur Güntürkün an. "Das liegt nicht daran, dass es meine Lieblingsemotion ist, sondern daran, dass wir so viel darüber wissen." Ende der 1990er-Jahre führten Wissenschaftler die Furcht-Konditionierung als Tiermodell ein. "Dieses Modell hat alles verändert", so Güntürkün.
"Es ist schade, dass wir über Emotionen wie Freude oder Liebe viel weniger wissen." Die positiven Emotionen seien ein lohnendes Gebiet für junge Forscherinnen und Forscher, betont der 17. Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur. Er schaut dabei auffordernd in die Reihen des wieder einmal zum Bersten gefüllten Hörsaals. "Ich hoffe, dass wir in einer ähnlichen Veranstaltung in 20 Jahren mehr über positive Emotionen berichten können."
Doch auch beim Thema Angst kann der renommierte Biopsychologe auf ein zahlreiches und interessiertes Publikum an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) bauen. Güntürküns Vorlesungsreihe "Psychologie und Gehirn: Zur Innenansicht des Menschen" erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die Menschen sind in Scharen gekommen, um etwas über "Die Entstehung der Emotionen" zu erfahren.
Emotionen als Überlebenssystem
"Was ist Angst?", fragt Güntürkün. Um eine Antwort zu finden, blickt er zunächst genauer auf den Begriff "Emotion". Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler führte ihn vor gut 100 Jahren ein. "Er setzte vor das lateinische Wort 'motio' für 'bewegen', ein 'E' für 'heraus'. Er hatte erkannt, was Emotion eigentlich ist: eine Bewegungspräparation."
Das System für Emotionen ist uralt. Es existierte bereits in den Gehirnen jener Geschöpfe, die vor 400 Millionen Jahren die Welt bevölkerten. Es drehte sich um Bedürfnisse wie "Ich will es haben", "Ich will verscheuchen" oder "Ich will weg".
"Jedes Tier, das zu lange wartete, um Beute zu machen, um ein Weibchen zu werben oder um zu fliehen, hatte keine Chance zu überleben." Ein System war nötig, das es in die Lage versetzte, bei subtilsten Anreizen schnell zu reagieren. "Es ist ein Überlebenssystem, ohne das die Nachkommenschaft nicht mehr gesichert wäre."
Güntürkün betont: "Wir sind die Nachkommen der Tiere, die schnell reagiert haben, die nicht lange überlegt haben. Wir fliehen lieber zehnmal umsonst, als einmal nicht zu fliehen. Wir haben ein System, dass überkalibriert ist." Dies öffne unter anderem den Weg für diverse Angsterkrankungen.
Zwei Pakete der Angst
Der Stiftungsprofessor wählt ein Schema, das die Struktur der Angst verdeutlicht: Da ist zu Beginn das Eingangspaket. "Es enthält Reizmuster, die auf gefährliche Objekte hinweisen." Viele Menschen haben Angst vor Spinnen oder vor Schlangen. Die Fähigkeit, Angst in den Gesichtern anderer zu erkennen, ist allen Menschen angeboren. "Wir sind darauf getrimmt, das wahrzunehmen", konstatiert Güntürkün. Am anderen Ende des Prozesses steht das Ausgangspaket. In ihm finden sich unter anderem die Erhöhung der Herzschlagrate und der Atemfrequenz, die Ausschüttung von Stresshormonen, Angstschreie und der Ausdruck von Angst im Gesicht. Zwischen diesen beiden Paketen sitzt eine kleine Hirnstruktur.
Güntürkün hat in seiner Vorlesung bereits viel von der Vernetzung der Hirnregionen erzählt. "Bei der Angst wäre es nicht besonders sinnvoll, ein Netz zu haben." Schließlich soll es schnell gehen. "Es muss ein Nadelöhr geben, wo alles zusammenläuft, und das ist die Amygdala. Sie ist die zentrale Struktur für die Generierung von Furcht." In Anspielung auf ihre Größe heißt sie auch Mandelkern. Sie ist ein kleiner Kern mit komplexen Strukturen.
Wenn die Angst einsetzt, werden Hirnregionen, die sonst bei Reizverarbeitung und Reaktion mit im Spiel sind, vernachlässigt. Die Angst nimmt die Abkürzung über die Amygdala. Das hohe Tempo führt zu Einbußen in einem anderen Bereich. "Für einen Frosch ist es gar nicht so wichtig, dass er den Storch genau erkennt. Es reicht, wenn er ein vereinfachtes Bild von ihm parat hat."
Gelernte Angst
Güntürkün stellt klar: "Die Amygdala ist nicht die Angst, aber sie ist das Nadelöhr der Angst." Sie enthält das Wissen um diagnostische Merkmale der Angst, etwa die Information, in die Augen des Gegenübers zu schauen, um Angst festzustellen. Bei Patienten mit der seltenen Urbach-Wiethe-Erkrankung ist die Amygdala nicht mehr funktionsfähig. Diese Patienten entdecken den Ausdruck der Angst im Gesicht ihres Gegenübers nicht. Experimente zeigen, dass sie schlicht nicht wissen, dass sie die Augen beobachten müssen, um Angst zu erkennen. Mehrmals aufgefordert, in die Augen zu schauen, sehen sie die Angst. "Die Angst ist nicht weg, nur das Nadelöhr fehlt."
Angst kann gelernt und wieder verlernt werden. Güntürkün führt das Beispiel von der dunklen Bahnunterführung an, in der ein Mann lauert und sein Opfer angreift. In der Folge werden "Mann", "dunkel" und "Unterführung" mit "Lebensgefahr" gekoppelt – genau wie jene angeborenen Muster "Spinne" oder "Schlange". Aus einer solchen Erfahrung kann sich ein neues Angstsystem bilden.
Wer dieses Angstsystem wieder verlernen will, geht am besten bei Tag in die Unterführung, rät Güntürkün. Es ist derselbe Ort, aber es herrschen andere Lichtverhältnisse. "Das System ist hinlänglich verschieden, der Output wird gehemmt." Die Angstreize sind allerdings nicht weg. "Sie schlummern noch in den Synapsen. Die Angst ist noch in Ihnen, aber sie ist verschlossen."
Narben im Gehirn
Güntürkün äußert abschließend nochmals sein Bedauern, dass so wenig darüber bekannt ist, wie Liebe, Freude oder Empathie entstehen. "Leider fehlen uns da im Moment die Modelle und sie werden mit Sicherheit nicht eins zu eins so aussehen wie das Modell der Angst. Wir haben noch extrem viel zu forschen."
Wie immer kommen am Ende viele Fragen aus dem Publikum. Eine dreht sich um Menschen, die ständig dem Gefühl der Angst ausgesetzt sind. Güntürkün zitiert dazu die Forschung eines Kollegen, der in Ländern wie Uganda oder Ruanda unterwegs war. Die Amygdala kommuniziert mit anderen Hirnregionen wie dem Hippocampus, dem Adressbuch des Gehirns, das weiß, wo Erinnerungen zu finden sind. Bei ständiger Angst sterben Zellen im Hippocampus ab. Dadurch werden die erlernten Angstsysteme fragmentiert. "Jemand, der von einer Person in Uniform gefoltert wurde, bekommt plötzlich Angst vor einer Uniform, auch wenn sie ganz anders aussieht als die seines Folterers."
Ständige Angst hinterlässt buchstäblich Narben im Gehirn der Menschen. "Wir müssen ihnen helfen, wenn sie zu uns kommen", fordert Güntürkün. "Wir müssen diesen Menschen Asyl geben."