7. Juni 2025
Bücherschränke sind lebendige Tauschbörsen für Lesestoff aller Art. Sie bieten ganz unkompliziert Zugang zu Gebrauchtbüchern – ohne Bibliotheksausweis, Ausleihkosten oder Rückgabefristen. Aber wie genau funktionieren diese besonderen Orte der alltäglichen Medienkultur? Das untersucht derzeit ein Lehrforschungsprojekt der Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in Kooperation mit der Hochschule Hannover.
Die bunten Klebepunkte sind so etwas wie die Visitenkarten der Bände, die in den öffentlichen Mainzer Bücherschränken auf neue Leserinnen und Leser warten: Sie zeigen an, woher ein Buch stammt. Gelb steht beispielsweise für den Bücherschrank im Stadtteil Mombach, direkt gegenüber der Stadtteilbücherei. In seinem ersten Leben war die Betonkonstruktion ein Verteilerkasten für elektrische Infrastruktur. Konzentriert zählen Franziska Dietrich, Alexandra Rübberdt und Elena Marija Katt an diesem Morgen nach, wie viele Bücher den bunten Punkt noch tragen, den sie vor gut zwei Wochen angebracht haben. Die Kontrolle ist Teil eines Lehrforschungsprojekts in der Mainzer Buchwissenschaft, das Dr. Anke Vogel im Sommersemester 2025 anbietet. Insgesamt 15 Bücherschränke im Mainzer Stadtgebiet werden dabei untersucht.

Und bislang spricht alles für eine große Nutzungsdynamik. "Seit dem ersten Tag nimmt die Zahl der markierten Bücher konstant ab, sie werden also von interessierten Leserinnen und Lesern mitgenommen", berichtet Alexandra Rübberdt. "Andererseits sind allein am ersten Tag fast 100 neue Bücher dazugekommen." Die Entwicklung des Bestands können die drei Buchwissenschaftlerinnen im BA-Studiengang exakt nachvollziehen. Denn nach dem Start der Feldforschung haben sie ihren Schrank zunächst eine Woche lang alle zwei Tage, danach im wöchentlichen Rhythmus aufgesucht. Besonders spannend für die Teilnehmenden des Seminars wird es, wenn in einem Bücherschrank neue Bände auftauchen, die mit der bunten Markierung aus einem anderen Mainzer Schrank versehen sind. So lassen sich die Wege dieser Gebrauchtbücher auch geografisch nachvollziehen. Im Mombacher Bücherschrank ist bislang aber noch kein Exemplar aus einem anderen Mainzer Bücherschrank angekommen.
Mainzer Netzwerk städtischer Bücherschränke seit 2011
Das im Lehrforschungsprojekt an der JGU untersuchte Netzwerk besteht aus 15 nahezu baugleichen städtischen Bücherschränken, entstanden in dieser Form im Jahr 2011. Den ursprünglichen Impuls gaben die amerikanischen Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann bereits in den 1990er-Jahren mit ihren Installationen von sogenannten Open Public Libraries, die im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz 1994 auch in Mainz geschaffen wurden. Als künstlerische Handlung konzipiert, erwiesen sich die Bücherschränke bald als niedrigschwelliges, kostenfreies und alltagspraktisches Angebot des Zugangs zu Lesestoff. So wurden schließlich die 15 Bücherschränke der Stadt Mainz im Jahr 2011 im Rahmen von "Mainz – Stadt der Wissenschaft" in der heutigen Form eingerichtet.
Besonders spannend ist die Vergleichbarkeit des Mainzer Projekts mit ähnlichen Realisierungen in Bonn und Hannover. So untersuchte die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn die dortigen städtischen Bücherschränke bereits im Wintersemester 2021/2022, während im laufenden Sommersemester an der Hochschule Hannover eine Studierendengruppe von Prof. Dr. Jutta Bertram parallel zum Mainzer Seminar forscht. "Beide Projekte finden in enger Kooperation statt", erklärt Dr. Vogel. "Unsere Mainzer Studierenden waren entsprechend auch schon auf Exkursion in Hannover."
Der Kontakt zwischen der JGU und der Hochschule Hannover kam im vergangenen Jahr zustande, als Prof. Dr. Ute Schneider und Dr. Anke Vogel das XXIX. Mainzer Kolloquium zum Thema "Versteigert, verramscht, entsorgt: Analysen zum Markt für gebrauchte Bücher" auf dem Gutenberg-Campus ausrichteten. "Das Kolloquium beschäftigte sich mit der ganzen Bandbreite des Themas Gebrauchtbuch – vom klassischen Antiquariat bis zum modernen Onlinehandel mit gebrauchten Büchern. Das Phänomen Bücherschränke war dabei auch Thema," erinnert sich Dr. Anke Vogel. Damals war Prof. Dr. Jutta Bertram als Referentin eingeladen. In der Vortragspause wurde sie von Studierenden umringt, die mehr über Bücherschrankforschung erfahren wollten. So entstand die Idee für das Kooperationsprojekt.
Literarische Bandbreite
Zurück nach Mombach. Darf es eine kompakte Louis-Armstrong-Biografie sein, samt historischem Zeitungsartikel über die Jazzlegende? Oder lieber fünf Bände Johannes Mario Simmel am Stück? Die Auswahl reicht von Karl May über einen Mineralienführer bis hin zu Henryk Sienkiewiczs "Quo Vadis". Es wird spannend sein zu sehen, welche Titel nach dem Untersuchungszeitraum noch aus dem Erstbestand vorhanden sind. "In Hannover waren es bei der achten Zählung nach 42 Tagen noch 12,7 Prozent, in Bonn 13,8 Prozent," berichtet Vogel. In Mainz zeichne sich bereits jetzt ab, dass die Dynamik des Austauschs in Mainz ähnlich ist wie in den beiden anderen Städten. Das Endergebnis steht nach dem 24. Juni 2025 fest. An diesem Tag werden die Mainzer Studierenden ihre finale Zählung vornehmen.

Und was begeistert die Teilnehmenden besonders an diesem sehr praxisorientierten Lehrforschungsprojekt? Die Freude an der Feldforschung ist auf jeden Fall greifbar. "Die Beschäftigung mit den konkreten Bücherschränken und ihrer Nutzung ist eine ganz direkte Erfahrung," betont Franziska Dietrich. Zwar sind sie und ihre Kommilitoninnen, die gemeinsam für die Erfassung eines Bücherschranks verantwortlich zeichnen, noch nicht in persönlichen Kontakt gekommen mit Leserinnen und Lesern oder mit Menschen, die mit eigenen Büchern den Bestand wieder auffüllen. Aber im Hier und Jetzt beobachten zu können, wie sich der Bestand verändert, welche Bücher schnell aus dem Schrank genommen werden und welche sich eher als "Schrankhüter" – abgeleitet vom Wort "Ladenhüter" – erweisen, sei eine spannende Abwechslung zur Beschäftigung mit eher medienhistorischen Themen.
An anderen Bücherschränken im Projekt hat es schon interessante Kontakt gegeben, beispielsweise mit den Schrankpaten. Das sind Menschen, die sich ehrenamtlich um den Bücherschrank in ihrem Wohnviertel kümmern. Und auch mit Oliver Valentin von der Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Mainz, der die städtischen Bücherschränke betreut, haben sich die Studierenden bereits ausgetauscht.
Bunte Szene der Bücherschränke
Mit eigenen Erfahrungen können die Seminarteilnehmenden ihre Forschung ebenfalls gegenspiegeln: "Privat nutze ich Bücherschränke selbst sehr gern. Da ist es faszinierend, diese Einrichtungen aus wissenschaftlicher Perspektive zu betrachten", so Elena Marija Katt. Im Gespräch mit den Studierenden wird auch deutlich, wie vielfältig und bunt die Szene der Bücherschränke ist: Es gibt kommunale und private Anlagen dieser Art, teils befinden sie sich in eigens dafür gebauten Objekten, teils in ehemaligen Telefonzellen oder eben in nicht mehr benötigten Schaltschränken. Auch auf dem Unicampus gibt es Bücherschränke und vergleichbare Einrichtungen. "Sie sind ein wichtiges Element für die lebendige Kultur der Gebrauchtbuchweitergabe in studentischen Milieus", betont Dr. Anke Vogel.
Für die statistische Auswertung und die wissenschaftliche Analyse im Lehrforschungsprojekt hat sich der Bestand der baulich ähnlichen Mainzer Anlagen aufgrund der guten Vergleichbarkeit angeboten. Das gilt umso mehr, als auch in Bonn und in Hannover ähnliche Netzwerke untersucht wurden. Die Erkenntnisse des Buchwissenschaft-Projekts dürften auch über die Universität hinaus interessant sein. „Wir würden uns freuen, wenn wir mit unseren Ergebnissen der Stadt Mainz einen frischen Impuls geben könnten, die Bücherschränke im Rahmen der Kulturförderung noch stärker zu unterstützen", so Dr. Anke Vogel.
Text: Peter Thomas