5. Oktober 2021
Er bezeichnet sich als politischen Aktivisten und als "Private ear", als Klangermittler: Der weltweit viel beachtete Künstler Lawrence Abu Hamdan ist an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zu Gast. Er wird bis ins Wintersemester als Gastprofessor lehren und forschen. Zudem zogen zwei seiner Klanginstallationen in die Schule des Sehens und die Black Box der Hochschule für Musik ein.
Selten präsentierte sich die Schule des Sehens auf dem Mainzer Campus so schlicht: Zwei schwarze Bänke stehen im hellen Raum, davor zwei ebenso schwarze Lautsprecher. Aus ihnen dringen Stimmen, mal verhalten flüsternd, mal sachlich klar, mal Arabisch, mal Englisch sprechend. Sie erzählen vom syrischen Gefängnis Saydnaya, von Erfahrungen der Gefangenschaft, von Folter und Tod. Hier wurde Stille zu einer besonderen Form von Gewalt und Terror.
"You hear the beating, but you don't hear the voices of the beaten." – "Du hörst die Schläge, doch nicht die Stimmen der Geschlagenen." Ein Geräusch lässt aufschrecken. Es klingt, als würde eine metallene Tür zuschlagen. Dann wieder die Stimmen. "You hear, where hits are landing." – "Du hörst, wo die Schläge landen." Sprechen ist verboten an diesem Ort, doch sechs ehemalige Opfer können erzählen. Lawrence Abu Hamdan macht mit seiner Klanginstallation "Saydnaya (the missing 19dB)" aus der Schule des Sehens eine Schule des Hörens.
"Er möchte, dass seine Kunst für sich spricht"
Die Hochschule für Musik (HfM) der JGU hatte eingeladen zur Midissage mit dem Künstler. Zwei seiner Werke sind zu sehen – oder besser: zu erleben. Beide beschäftigen sich mit jenem Gebäudekomplex 25 Kilometer nördlich von Damaskus, aus dem 2011, zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, ein Todeslager wurde. In den folgenden vier Jahren verloren hier bis zu 17.000 Gefangene ihr Leben. "Fragen stellen ist möglich", meint Gastgeber Prof. Peter Kiefer. "Aber wir wollen nicht die Kunst erklären. Kunst soll erfahren werden." Nebenbei weist er auf zwei Tafeln an der Wand, die erläutern, in welchem Kontext die Arbeit entstanden ist. "Die findet er eigentlich nicht notwendig", meint Kiefer mit Blick auf Abu Hamdan. "Er möchte, dass seine Kunst für sich spricht."
Abu Hamdan hat sich unters Publikum gemischt, er fällt nicht weiter auf und bleibt eher im Hintergrund, wenn er sich nicht gerade für ein Foto auf eine der beiden schwarzen Bänke setzen soll. Doch wer ihm Fragen stellt, erntet klare Ansagen: Sieht er sich als politischen Künstler? "I'm a political activist!" Politik treibe ihn um, betont er. Vor allem darum gehe es. Er suche nach Antworten.
Seit Mai 2021 ist Abu Hamdan zu Gast an der JGU, bis ins Wintersemester wird er bleiben. Er forscht und lehrt im Zuge des Projekts ARS (Art-Research-Sound), das vom Gutenberg Forschungskolleg (GFK) der JGU getragen wird. Kiefer, der vor zehn Jahren mit der Abteilung Klangkunst-Komposition ein bis heute bundesweit einzigartiges Studienprogramm an der HfM begründete, rief 2018 mit ARS ein Projekt ins Leben, das sich mit der Welt der Geräusche und des Hörens beschäftigt. "Wir bringen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler in Dialog", erläutert der Komponist und Klangkünstler. "Wir sehen Klang zugleich als Objekt der Forschung und als Objekt der Kunst. Dabei tun sich uns ständig neue Perspektiven auf."
Ermittlungen an der Schwelle der Hörbarkeit
Dr. Carolin Lauer und Julia Reif stießen für ARS das Thema Ohrenzeugenschaft an. "Den Begriff des Augenzeugen kennen wir alle", meint Kiefer. "Wir sagen vor Gericht aus, was wir gesehen haben, und es werden Phantombilder erstellt. Aber das Gehörte ist mindestens ebenso relevant." Zwar steht der Begriff Ohrenzeuge im Duden, doch ist er kaum geläufig. "Wir schauten uns um, welcher Künstler zu diesem Thema passt – und stießen auf Lawrence Abu Hamdan. Er ist wie kein anderer prädestiniert, sich dazu zu äußern. Außerdem ist er ein unglaublich guter Vermittler."
Abu Hamdan, 1985 im jordanischen Amman geboren, wuchs vorwiegend in England auf. 2007 schloss er seinen Bachelor an der Middlesex University London ab, danach studierte er am Centre for Research Architecture des University of London. In seiner Dissertation von 2016 beschäftigt er sich mit dem "Aural contract: investigations at the threshold of audibility". Solche "Ermittlungen an der Schwelle zur Hörbarkeit" führte er zu Saydnaya durch. Amnesty International beauftragte ihn, in Zusammenarbeit mit der Kunst- und Rechercheagentur "Forensic Architecture" den Ereignissen im Gefängnis nachzuspüren: Sie enthüllten die geheime Architektur des Gebäudekomplexes, in dem alle Insassen ausschließlich mit verbundenen Augen ihre Zellen verlassen dürfen, und Abu Hamdan drang mit den Ohrenzeugenberichten der sechs Gefangenen tief in einen Kosmos aus Gewalt und Tod ein.
Angelehnt an den Begriff "Private eye" – Privatdetektiv – sieht sich der 36-Jährige als "Private ear", als Klangermittler. Er ist Technikspezialist und Künstler zugleich. 2019 wurde er für seine Ausstellung "Earwitness Theatre" mit dem renommierten Turner-Preis ausgezeichnet. Seitdem ist er auch der breiteren Öffentlichkeit ein Begriff. Seine Werke sind in den Sammlungen der bedeutendsten Museen der Welt zu finden, im MoMA Manhattans, dem New Yorker Guggenheim Museum, dem Centre Pompidou in Paris oder der Tate Modern in London. Nun sind mit "Saydnaya (the missing 19dB)" und "After SFX" zwei davon vorübergehend in die Schule des Sehens und die Black Box der HfM eingezogen. "Unser Haus wurde also vorübergehend in ein Museum verwandelt", schmunzelt Kiefer bei der Midissage.
GFK-Projekt ARS öffnet Welten
Am Vortag der Midissage reiste Abu Hamdan aus Dubai an. Er freut sich darauf, seine Arbeit mit den Mainzer Studierenden der Abteilung Klangkunst-Komposition fortzusetzen. "Sie haben ähnliche Anliegen wie ich und auch sie sehen Klang nicht nur als Medium."
"Wo immer wir mit unserem Forschungsprojekt ARS eine Tür öffnen, entfaltet sich eine Riesenwelt", sagt Kiefer. Das zeigte sich beim Symposium "Knock, Tap, Rap!" zum Thema "Klopfen". "Wir dachten, wir wären relativ schnell damit durch, aber das Echo war groß. Überall finden wir etwas zum Klopfen, ob im Alltag oder der Kunst." Klänge auf der Intensivstation sind ein weiterer Aspekt. "Die Berliner Charité arbeitet bereits daran. Auf der Intensivstation sind wir in der verletzlichsten Verfassung überhaupt und doch herrscht ausgerechnet dort ein ungeheurer Lärm. Schätzungen sagen, dass 15 bis 20 Prozent nach dem Aufenthalt – unter anderem auch durch den Lärm ausgelöste – posttraumatische Belastungsstörungen haben, die in den Folgemonaten manchmal sogar zum Tod führen können." Kiefer holt tief Luft: "Wenn Sie mir heute sagen wurden, ich könnte ein Max-Planck-Institut für Klangforschung gründen, hätte ich morgen 70 Fachleute mit entsprechenden Themen am Start."
Abu Hamdan erzählt an diesem Abend einiges über seine minutiöse Detektivarbeit zu Saydnaya. Er zeigt, wie aus den Aussagen der ehemaligen Gefangenen 3D-Simulationen wurden, die eine Topografie der Gebäude erahnen lassen. Er berichtet auch, wie sich 2011 ein grundlegender Wandel vollzog: Aus dem Gefängnis wurde ein Todeslager. Es wurde leiser, viel leiser – um 19 Dezibel leiser, wie Abu Hamdan herausfand. Stille wurde zum Mittel der Folter, zur Vorstufe des endgültigen Verstummens: "19 Dezibel Geräuschsenkung der Insassen entspricht 19 Dezibel Anstieg der Gewalt", heißt es frei übersetzt in der Klanginstallation "Saydnaya (the missing 19dB)". Ein ehemaliger Wärter sagt: "Saydnaya ist das Ende des Lebens."