Die große Wirkung kleiner Zellfortsätze

11. August 2025

Winzige Fortsätze von Zellen in unserem Körper können über Gesundheit oder genetische Erkrankung entscheiden. Genau zu diesen haarähnlichen Zellfortsätzen forscht die Mainzer Zellbiologin und Zilien-Expertin Helen May-Simera. Sie nimmt die große Wirkung kleiner Strukturen in den Blick – und verbindet dabei molekulare Grundlagenforschung mit klinischer Relevanz, Patientenkontakt und internationaler Lehre.

Vor einigen Wochen war Prof. Dr. Helen May-Simera so glücklich, dass sie vor Freude hätte weinen können. Beim Patiententag im BioZentrum auf dem Gutenberg-Campus traf ihre Forschungsgruppe auf Betroffene des Bardet-Biedl-Syndroms, kurz BBS – jener genetischen Erkrankung, die ihr Team erforscht. Die Doktorandinnen und Doktoranden erläuterten ihre Laborprojekte, nahmen Proben und erfuhren von den Patientinnen und Patienten viel über den Alltag mit der Krankheit, die mit Erblinden, Nierenproblemen und beispielsweise auch Adipositas einhergeht. "Forschung, Lehre und Patienten zusammenbringen, um gemeinsam die Hintergründe dieses schweren Syndroms zu entschlüsseln – genau das habe ich mir immer gewünscht", erzählt Helen May-Simera, Professorin am Institut für Molekulare Physiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).


Prof. Dr. Helen May-Simera forscht im Bereich der molekularen Zellbiologie insbesondere zu Ziliopathien. (Foto: Peter Pulkowski)
Prof. Dr. Helen May-Simera forscht im Bereich der molekularen Zellbiologie insbesondere zu Ziliopathien. (Foto: Peter Pulkowski)

Seit 20 Jahren verbindet sie molekulare Zellbiologie mit klinisch relevanten Fragen – und befasst sich dabei insbesondere mit Ziliopathien. "Zilien sind winzige, haarähnliche Fortsätze der Zelle, die ein bisschen wie Antennen aussehen und auch so funktionieren", erklärt May-Simera. "Zilien empfangen und senden Signale in die Umgebung der Zelle. Sind ihre Funktionen gestört, kann das zu schweren genetischen Erkrankungen wie BBS führen." Lange hatte man Zilien für funktionell bedeutungslos gehalten – "ein bisschen wie den Blinddarm, nur eben an der Zelle" – und dass, obwohl Zilien schon im 17. Jahrhundert unter dem Mikroskop sichtbar waren als feine bewegliche Härchen an Einzellern wie dem Pantoffeltierchen. "Aber ich bin jemand, der gerade da genau hinschaut, wo andere es nicht tun."

Vom Innenohr zum Auge

In England geboren, wuchs Helen May-Simera zweisprachig auf und machte das Europäische Baccalauréat, das europäische Pendant zum Abitur, in der deutschen Sektion ihrer Schule. "Ich wollte unbedingt etwas Naturwissenschaftliches machen, wusste aber lange nicht genau was." Erst im Studium der Biochemie an der University of Bath sei ihr klar geworden: "Ärztin will ich zwar nicht werden, aber die medizinische Forschung ist mein Ding."

Während verschiedener Praktika im Ausland, unter anderem auf Mauritius und in den USA, untersuchte sie Krankheitsursachen auf zellulärer Ebene. "Das bestärkte mich in meinem Entschluss. Ich merkte, dass ich nicht die Symptome von Krankheiten behandeln, sondern ihren Ursachen auf den Grund gehen wollte." Nach dem Studium entschied sie sich dafür, in London zu einem klinisch relevanten molekularbiologischen Thema zu promovieren. "Dabei bewarb ich mich einfach auf alle Promotionsthemen an Londoner Universitäten, die spannend klangen."

Besonders sprach sie das Angebot des Zilienforschers Phil Beales am University College London an – und das aus unterschiedlichen Gründen. "Vor allem war er ein international ausgewiesener Experte für Ziliopathien – ein interessantes und damals noch recht neues Forschungsfeld." Sein Labor war eines der ersten, das Instrumente zur funktionellen Analyse ziliärer Proteine entwickelte – darunter Tiermodelle, die die Entstehung dieser seltenen Krankheiten verständlicher machten. "Er versprach mir, dass ich mit Patienten arbeiten, in die USA reisen – und sogar einen eigenen Laptop bekommen würde", sagt sie und lacht.

Nach der Promotion bei Beales, in einem Umfeld, das klinische und molekulare Aspekte der Zilienforschung eng miteinander verknüpfte, zog es sie für ein Postdoc-Stipendium in die USA, wo sie Zilien und die damit verbundenen Krankheiten an den renommierten National Institutes of Health erforschte. Zuerst arbeitete sie im Innenohrbereich, bevor sie ans National Eye Institute wechselte. "Dabei ging es um dieselbe Frage: Was geschieht beim BBS-Syndrom mit den Proteinen in der Zelle?", so May-Simera. "Aber am Auge kann man die Veränderungen besser erkennen und nachvollziehen – und fast alle Zelltypen des Auges tragen Zilien." Auch dabei richtete May-Simera ihren Blick auf bislang wenig beachtete Arten wie das retinale Pigmentepithel, eine Zellschicht unter den Photorezeptoren der Netzhaut.

Ein kleines, kooperatives Forschungsfeld

Mit dem mit 1,65 Millionen Euro dotierten Sofja Kovalevskaja-Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung kam May-Simera schließlich nach Deutschland. "Diesem Preis verdanke ich eigentlich meine Karriere. Schließlich erlaubte er es mir, ein Labor aufzubauen, Personal einzustellen, einfach selbstständig zu arbeiten." Dass sie sich für Mainz als Standort ihrer neuen Forschungsgruppe entschied, sei eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen, betont May-Simera.


Helen May-Simera (r.) hat seit 2014 an der JGU eine Forschungsgruppe aufgebaut, die sich auf Ziliopathien und insbesondere das komplexe Bardet-Biedl-Syndrom spezialisiert hat. (Foto: Peter Pulkowski)
Helen May-Simera (r.) hat seit 2014 an der JGU eine Forschungsgruppe aufgebaut, die sich auf Ziliopathien und insbesondere das komplexe Bardet-Biedl-Syndrom spezialisiert hat. (Foto: Peter Pulkowski)

"An der JGU habe ich sehr gute Bedingungen vorgefunden. Hier hatte ich das Gefühl, dass etwas am Entstehen ist", so die Biologin. "Der Fachbereich Biologie unterstützte mich als Nachwuchsgruppenleiterin von Anfang an und ich erhielt sofort Anschluss an ein wachsendes Forschungsnetzwerk." Seit 2021 hat Helen May-Simera nun auch eine Universitätsprofessur an der JGU inne und ist heute unter anderem Teil der Forschungsgruppe 5547 zur Ziliendynamik der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem ersten deutschlandweiten Verbund zu diesem Thema. "Die Zilienforschung ist ein kleines Feld, doch die Community ist eng vernetzt, offen und sehr kooperativ."

May-Simeras Arbeitsgruppe hat das Verständnis von Zilien bereits maßgeblich erweitert. Das Team konnte zeigen, dass Zilien aktiv an der Signalübertragung beteiligt sind – vor allem in einem Signalweg, der für Zellteilung und die Entwicklung von Embryos entscheidend ist. Zudem konnten sie nachweisen, dass Zilien über kleine Bläschen, sogenannte extrazelluläre Vesikel, selbst Informationen weitergeben. Aktuell erforscht die Gruppe um May-Simera, wie defekte Zilien im retinalen Pigmentepithel – einer lange vernachlässigten Zellschicht im Auge – zur Degeneration der Netzhaut beitragen.

Von Patienten lernen

Nach wie vor ist Helen May-Simera dabei der Austausch mit Patientinnen und Patienten besonders wichtig. "Wir Forschenden lernen unglaublich viel von ihnen: über Symptome, Verläufe, genetische Konstellationen. Und wir wiederum möchten ihnen zeigen, woran wir arbeiten." Dieses Verständnis will die Biologin auch an ihre Studierenden und Promovierenden weitergeben.

"Ich finde es einfach wichtig, dass junge Menschen Erfahrungen sammeln – mit anderen Perspektiven, aber auch an anderen Orten", sagt May-Simera. "In andere Länder zu gehen, die Arbeit in verschiedenen Laboren kennenzulernen, das eröffnet neue Einblicke – und Türen", weiß die Biologin aus eigener Erfahrung. Deshalb unterstützt sie interessierte Studierende nach Kräften dabei, über internationale Austauschprogramme ins Ausland zu gehen. "Und wenn sie zurückkommen, sind sie immer hochmotiviert und voller neuer Ideen." Das bringe auch Impulse für die Forschung vor Ort.

"Deshalb sind internationale Kooperationen für mich unverzichtbar", betont May-Simera. So nutzt sie etwa den europäischen Universitätsverbund der FORTHEM Alliance ganz gezielt, um Studierende über Ländergrenzen hinweg zusammenzubringen und zu fördern. "Die Idee ist, Studierende, aber auch Postdocs und Forschende zusammenzubringen, die am selben Themengebiet arbeiten – in unserem Fall der Signalübertragung zwischen Zellen." Aus diesem Grund hat sie im Rahmen von FORTHEM die Cellular Signaling Winter School im finnischen Jyväskylä ins Leben gerufen, bei der sie auch selbst unterrichtete. Und sie brachte sich in einem Team Teaching zu innovativen Lehrformaten mit der Universität Palermo ein.



Ausgleich beim Imkern

"Es freut mich immer, wenn ich sehe, wie Studierende sich dabei für ein bestimmtes Forschungsfeld zu begeistern beginnen." Auch den Forschenden selbst verhelfe der internationale Austausch zu neuen Ideen und zu mehr Diversität, sowohl in der Lehre als auch in der Wissenschaft. "In Mainz hat sich viel verändert. Wir haben heute viel mehr Kolleginnen und Kollegen, aber auch Studierende mit internationalem Hintergrund und es wurden zahlreiche internationale Masterprogramme aufgebaut."

Neue Impulse für sich selbst schöpft sie auch aus der Freizeit mit ihrer Familie – sei es in einfallsreichen Legokonstruktionen mit ihrem Sohn oder beim Imkern. "Ich nenne es mein Corona-Hobby, weil es auf diese Zeit zurückgeht", so May-Simera. Und obwohl sie sich selbst als eher schlechte Imkerin bezeichnet, konnte sie in einem Jahr doch immerhin 30 Kilogramm Honig ernten. Derweil ist ihr das Reisen nicht nur im Rahmen der Forschung, sondern auch mit der Familie wichtig. So verbrachte sie kürzlich zwei Wochen in Uganda, wo sie an der Schule einer befreundeten Hilfsorganisation mitarbeitete. "Ich habe mit den Grundschülern kleine naturwissenschaftliche Experimente durchgeführt", erinnert sie sich. "Vielleicht ist ja sogar etwas von meiner Begeisterung für Forschung auf die Kinder dort übergesprungen."

Text: Anja Burkel

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