Doping fürs Hirn, Fragen für Philosophen

10. September 2015

In der Forschungsstelle Neuroethik / Neurophilosophie am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) treffen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Medizin, Biologie und Soziologie mit Philosophen zusammen, um die Entwicklung der Neurowissenschaften und ihre Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche zu untersuchen. Das sechsköpfige Team um Dr. Sabine Pohl und Jon Leefmann arbeitet an drei umfassenden Forschungsprojekten und einer weltweit einzigartigen Bibliografie.

Der Begriff "Neuroenhancement" geistert seit einigen Jahren durch die Medien. Die Möglichkeit, mit chemischen Substanzen gezielt Einfluss auf den menschlichen Geist zu nehmen, seine Leitungsfähigkeit zu verbessern, übt einen ungeheuren Reiz aus. Auch Studierende tun es, das ist längst bekannt.

"Die Spaßgesellschaft der 1990er ist passé", meint Dr. Sabine Pohl. "Heute spielt der Leistungsgedanke eine große Rolle. Viele Menschen streben nach Selbstoptimierung." Da kommt Neuroenhancement gerade recht. Verschiedenste Stoffe versprechen, das Hirn auf Touren zu bringen oder es zu beruhigen. Auf jeden Fall soll es in den Stand versetzt werden, mehr und bessere Leistungen zu bringen. "Ritalin ist da ein Klassiker. Betablocker werden genommen, um die Aufregung zu drosseln. Aber auch Speed, Kokain oder Amphetamine werden eingesetzt. Allgemein alles, was wacher macht."

Pharmakologisches Neuroenhancement

Pohl ist Mitarbeiterin des Forschungsprojekts "Pharmakologisches Neuroenhancement: Zwischen planbarem Wissenstransfer und nicht intendierten Rückwirkungen", das von Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Daran beteiligt sind die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie das Institut für Publizistik und das Philosophische Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit seiner Forschungsstelle Neuroethik / Neurophilosophie.

Zum sechsköpfigen Team dieser im Oktober 2010 gegründeten Forschungsstelle gehört Pohl. Zusammen mit Jon Leefmann sitzt sie in einem Büro auf dem Gutenberg-Campus, um von den Projekten zu erzählen, die hier zusammenlaufen. Viel Platz ist nicht in dem schmalen Raum, aber der Bogen, den die beiden im Gespräch spannen, ist weit.

"Neue Möglichkeiten stellen alte Normen infrage", sagt Leefmann. Die Neurowissenschaften bieten solche Möglichkeiten. "Uns stehen heute eine ganze Reihe neuer Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Frage ist nur: Nutzen wir die oder nicht?"

Die Forschungsstelle arbeitet im Grenzbereich zwischen angewandter Ethik, Sozialwissenschaften und Neurowissenschaften. Das spiegelt sich unter anderem in der Person von Leefmann: Er studierte Medizin, Biologie und Philosophie in Heidelberg, Tübingen und Pavia. Auch der Kopf des Teams, PD Dr. Elisabeth Hildt, studierte Biochemie und Philosophie. Seit sie im vergangenen Jahr als Professorin und Direktorin an das Center for the Study of Ethics in the Professions am Illinois Institute of Technology in Chicago in den USA berufen wurde, kann sie die Arbeit der Mainzer Forschungsstelle allerdings nur noch aus der Ferne begleiten.

Einmalige Fachbibliografie

Doch das hindert das Team nicht, engagiert weiterzumachen. An drei großen Projekten ist die Forschungsstelle beteiligt. Zudem hat sie eine weltweit einmalige Bibliografie zum Themenkomplex Neuroethik erstellt, die mittlerweile rund 3.500 Titel umfasst. "Es gibt sicherlich auch andere Bibliografien in dem Bereich", räumt Leefmann ein, "aber keine, die sich so spezifisch mit der Neuroethik befasst." Dies ist der ideale Werkzeugkasten für alle, die intensiv auf diesem Feld arbeiten wollen.

"Wir arbeiten sehr empirisch, das ist für Philosophen ungewöhnlich", erzählt Leefmann. Pohl nimmt den Faden auf: "Deswegen ist es gut, dass wir mit Ronja Schütz auch eine Soziologin in der Gruppe haben. Gerade methodologisch profitieren wir viel von ihr."

Beide Aspekte schlagen sich im BMBF-Projekt zum pharmakologischen Neuroenhancement nieder. Im Moment führen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit drei Personengruppen ausführliche Interviews: "Wir sprechen mit Journalisten", sagt Pohl. "Wir wollen unter anderem wissen, wie gut sie über das Thema Neuroenhancement informiert sind und wie sie es in die Medien bringen." Die zweite Gruppe setzt sich aus Medizinern und Apothekern zusammen. Wie stehen sie zum Konsum der Substanzen? Wie sieht ihre berufliche Praxis in diesem Bereich aus?

Probanden gesucht

"Dann interviewen wir noch eine Gruppe, die zur Hälfte aus Personen besteht, die entsprechende Substanzen konsumieren, und zur anderen Hälfte aus Leuten, die das nicht tun." Hier geht es einerseits darum, ob sich die Probanden generell Gedanken über den Einsatz der Substanzen gemacht haben und wie ihre Einstellung dazu ist. "Aber es geht auch sehr konkret um den Konsum. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass viele sehr genau wissen, was sie da tun."

Mehr kann Pohl noch nicht über die Erkenntnisse des Projekts berichten. "Wir stecken noch mittendrin. Es zeichnen sich zwar Tendenzen ab, aber die Ergebnisse stehen noch aus." Nach den ausführlichen Interviews mit ausgewählten Einzelpersonen soll noch eine repräsentative Umfrage mit einer größeren Gruppe folgen. "Wir könnten vorher aber noch Probanden für die dritte Gruppe brauchen, die für ein Interview bereitstehen", sagt Pohl. Die sollten allerdings nicht aus dem studentischen Bereich kommen, der sei schon ausreichend abgedeckt.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte Projekt "The Neuro-turn in European Social Sciences and Humanities: Impact of neuroscience on economics, marketing and philosophy" – kurz NESSHI – zeigt auf den ersten Blick Überschneidungen mit dem BMBF-Projekt, führt aber in eine andere Richtung. "Als Neuro-Turn bezeichnen wir das Phänomen, dass die Neurowissenschaften in alle möglichen Disziplinen vordringen", erläutert Leefmann. "Es ist inzwischen von Neuroökonomie, von Neuroästhetik oder sogar Neurotheologie die Rede. Wir untersuchen sehr breit aufgestellt, wie sich der Diskurs darüber in den Medien niederschlägt. Wir haben neben der wissenschaftlichen Debatte alle großen deutschen Tageszeitungen im Blick und die Berichte der letzten 20 Jahre erfasst, die sich damit beschäftigen."

Zukunft offen

Auch dieses Projekt läuft noch, Leefmann skizziert eine Tendenz. "Viele neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden relativ unreflektiert aufgegriffen und auf Alltagsfragen übertragen. Im Focus gab es einen Artikel über Multitasking. Er zitiert kurz zwei, drei psychologische Studien, die untersuchen, wie sich Training auf Multitasking auswirkt, und empfiehlt zum Schluss pauschal, Multitasking zu trainieren."

"Neuro-Enhancement – Responsible Research and Innovation" oder kurz NERRI heißt das dritte Projekt, an dem die Forschungsstelle beteiligt ist. "Es wird von der EU unterstützt und vereint 18 Partner aus elf europäischen Ländern", sagt Leefmann. Hier geht es darum, umfassend Entwicklungen, Chancen, Probleme und ethische Aspekte von Neuroenhancement auszuloten, um dann Empfehlungen für die Europäische Union auszuarbeiten.

Mit diesen drei Projekten und ihrer Spezialbibliografie ist die Forschungsstelle im Moment gut ausgelastet. Unklar allerdings ist, wo es hingehen soll, wenn diese Projekte in den nächsten Jahren auslaufen. Antworten darauf und auf die Fragen der drei Forschungsprojekte werden sich sicherlich finden.