29. Juni 2015
Studieren in Litauen und Deutschland und zusätzlich in Schweden oder Estland: Das ist mit dem internationalen Masterstudiengang "Sociolinguistics and Multilingualism" – oder kurz SoMu – möglich. Universitäten aller vier Länder kooperieren, um einen Einblick in die vielfältige Sprachlandschaft, die Gesellschaft und die Geschichte des Ostseeraums zu vermitteln. Prof. Dr. Anneli Sarhimaa vom Forschungs- und Lehrbereich Sprachen Nordeuropas und des Baltikums der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat diesen ungewöhnlichen Studiengang mit ins Leben gerufen.
Angela Gbandi kommt aus Nigeria. Noch ist ihr Deutsch wackelig, denn sie studiert erst wenige Monate an der JGU. Von der Ostsee wusste sie ursprünglich nichts. Das schwarze Meer, das kannte sie, aber die Ostsee? Der Ostseeraum und seine Geschichte waren Neuland für die Studentin. "Aber als ich mehr darüber erfuhr, merkte ich, wie spannend das Thema ist."
Sie fand Parallelen zu ihrer Heimat, einem Land mit mehr als 500 Sprachen und Dialekten – und sie fand auffällige Unterschiede. "Wenn mich jemand fragt, welche Sprachen ich spreche, sage ich Igbo, Hausa und Englisch." Die Betonung liege auf Englisch, dass sei die wichtige Sprache. "Die anderen beiden spielen international keine Rolle. Wir sind in Nigeria selten stolz auf unsere eigenen Sprachen." Das Englische ist ein Erbe des Kolonialismus, genau wie die Geringschätzung für die indigenen Idiome.
Von Nigeria an die Ostsee
Beim Studium im Baltikum, im litauischen Kaunas, begegnete Gbandi einer ähnlichen Situation. Der russische Imperialismus hatte über Jahrzehnte versucht, die kleinen Sprachgebiete der Region zu russifizieren. Nach der Auflösung des Ostblocks aber entstanden souveräne Staaten. Estland, Lettland und Litauen begannen ihre Sprachen mit Stolz zu reaktivieren.
Ob im Baltikum oder in Nigeria, jedes Mal geht es um das Verhältnis von kleinen Sprachen, von kleinen Bevölkerungsgruppen, zu einem mächtigen Block und seiner Sprache. "Vielleicht werde ich später diese Prozesse genauer vergleichen", meint Gbandi. "Vielleicht können meine Erfahrungen nützlich sein für zu Hause."
Der Horizont spannt sich weit beim Gespräch im Büro von Prof. Dr. Anneli Sarhimaa. "Anders könnte ich mir das auch gar nicht vorstellen", bekräftigt die Finnin lächelnd, "das wäre langweilig." Sie gehört zum Team des Forschungs- und Lehrbereichs Sprachen Nordeuropas und des Baltikums (SNEB) am Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, einer Einrichtung, die in Europa einmalig ist. Und sie gehört zu den Initiatoren des Studiengangs "International Master in Sociolinguistics and Multilingualism", der im Wintersemester 2013/2014 erstmals angeboten wurde. Davon will sie zusammen mit drei Studierenden erzählen.
Ein Raum für viele Sprachen
"Die Idee zu solch einem Studiengang kam im Jahr 2011 auf." Der Ostseeraum als Fokus lag nicht nur für Sarhimaa nahe: Hier treffen finnougrische, baltische und germanische Sprachen aufeinander. Große, kleine und Kleinstsprachen schauen eng verbunden auf eine wechselvolle Geschichte. Themen wie sprachliche Variationen oder Identität, das Verhältnis von National- und Minderheitensprachen und vieles mehr bieten sich an.
Der Studiengang ist eine Kooperation der Vytautas Magnus Universität im litauischen Kaunas und der JGU. Die Studierenden erhalten den Masterabschluss beider Universitäten. Das erste Semester verbringen sie in Litauen, dann kommen sie nach Mainz – wie Angela Gbandi. In beiden Ländern wird ihnen unter anderem auch die jeweilige Sprache nahegebracht. "Ich lerne Litauisch und Deutsch nicht einfach irgendwo, sondern in Litauen und Deutschland", betont die Nigerianerin. "So lerne ich auch die Kulturen, die Länder und die Menschen kennen." Später geht es nach Tartu in Estland oder nach Stockholm in Schweden, denn auch die dortigen Universitäten kooperieren mit dem Studiengang.
Maren Gockel schreibt gerade an ihrer Masterarbeit. "In zehn Tagen muss sie fertig sein", erzählt sie. Ein wenig ist der Stress herauszuhören. Ganz anders aber klingt es, wenn sie von ihrem Studium erzählt, besonders von der Zeit in Kaunas und Stockholm. "Vorher habe ich gar nicht so intensiv über die politischen und gesellschaftlichen Prozesse im Ostseeraum nachgedacht." Doch auch sie spürte den Sog. "Wir erlebten die Russlandkrise sehr intensiv. Wenn man vor Ort ist, bekommt man alles viel genauer mit. Ich habe zum Beispiel hautnah erfahren, wie wertvoll den Menschen in Litauen ihre Sprache ist."
Deutsch lernen in Schweden
Das Thema ihrer Masterarbeit führte Gockel zurück nach Deutschland, nach Frankfurt am Main. Sie untersucht den Umgang mit Sprachen an Kindertagesstätten angesichts einer Vielzahl von Kindern mit Migrationshintergrund. Das scheint ein Stück wegzuführen vom Fokus des Studiengangs. "Das ist das Besondere", konstatiert die gelernte Erzieherin. "Wir bekommen kein Thema aufgedrückt. Wir können unsere Interessen einbringen." Und tatsächlich forscht sie ja ganz im Sinne des Studiengangs zu Vielsprachigkeit und Soziolinguismus.
Auch für Frederik Bissinger sind es noch zehn Tage, dann muss die Masterarbeit stehen. "Ich habe mir die Sprachpolitik in Schweden angeschaut. Wie wird die deutsche Sprache dort promotet und welche Auswirkungen hat das auf andere Sprachen? Sprachpolitik ist ein sensibles Thema. Man kann viel retten, aber auch viel kaputt machen."
Deutsch werde propagiert mit Hinweis auf die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik. "Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Schwedens." Zugleich werde betont, dass Deutsch neben Englisch und Französisch Arbeitssprache in der EU sei. "Deutschland fördert die deutsche Sprache im Ausland jährlich mit mehreren 100 Millionen Euro." In Schweden macht Bissinger eine gewisse Sättigung aus. Außerdem verdränge das Deutsche andere kleine Sprachen.
Bissinger selbst hat für sich an der Vytautas Magnus Universität eine kleine Sprache entdeckt: das Litauische. "Damit werde ich weiter machen", sagt er, "auch nach dem Studium."
Ein erfolgreicher Start
Der Masterstudiengang Sociolinguistics and Multilingualism ist ein Erfolg. "Wir haben mit sechs Studierenden begonnen", meint Sarhimaa mit Blick auf Gockel und Bissinger. "Im Jahr darauf waren es schon zehn." Sie schaut zu Gbandi hinüber. "Aktuell haben wir rund 30 neue Anmeldungen."
Die Zusammenarbeit mit Kaunas, Tartu und Stockholm funktioniere hervorragend. "Wir sind in ständigem Austausch und die Studierenden werden sehr intensiv betreut." Die eine oder andere Abstimmung in den Lehrplänen war nach dem ersten Jahrgang zwar noch nötig. "Da musstet ihr durch", meint Sarhimaa mit einem Augenzwinkern zu Bissinger und Gockel. Dafür profitierten die beiden von der mehr als übersichtlichen Zahl der Studierenden: "In meinem Bachelorstudium waren wir Hunderte", erinnert sich Bissinger, "hier waren wir drei aus Litauen und drei aus Deutschland. Wir wurden Freunde."
"Wir erforschen Multilingualismus sehr praxisnah", ergänzt Sarhimaa noch. "Das ist eine gute Vorbereitung auf eine mehrsprachige internationale Arbeitswelt." Tatsächlich spannt sich der Horizont weit für die Studierenden – aber sonst wäre es ja auch langweilig.