Ein Weltrekord für die Mainzer Physik

12. Juni 2017

Mit dem größten magnetischen Kugelbeschleuniger der Welt hat die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) am gestrigen Sonntag einen offiziellen Guinness World RecordsTM-Weltrekord aufgestellt. Ein Team aus Physikern, unterstützt von Mainzer Schülerinnen und Schülern, arbeitete über Monate an dem Projekt, die Mainzer Verkehrsgesellschaft legte extra eine Straßenbahnlinie lahm und am Ende feierten die Mainzer Physiker gemeinsam mit Hunderten von begeisterten kleinen und großen Besucherinnen und Besuchern ein großes Fest der Wissenschaft.

Der eine wirkt ausgesprochen nervös, der andere scheint die Ruhe selbst zu sein: Gemeinsam gehen Dr. Christian Schneider und Karl-Heinz Geib noch einmal die 546 Meter lange Kugelbahn ab. In zwei Stunden soll diese Bahn die JGU ins Guinness-Buch der Rekorde katapultieren.

Um 5 Uhr morgens begann der Aufbau. Schon da versprach es ein warmer Tag zu werden. Bis um 10 Uhr gewann die Sonne mehr und mehr an Kraft. "Die Bahn hat sich aufgrund der direkten Sonneneinstrahlung schon um 20 Zentimeter ausgedehnt", erzählt Schneider. "Wir sind auf 15 Grad Temperaturunterschied eingestellt." Er schaut in den blauen Himmel. "Ich denke aber, es werden mehr." Die Dehnungsfugen zwischen den einzelnen Aluminiumschienen haben sich geschlossen. Es gibt nicht mehr viel Spielraum.

700 Kugeln, 350 Magnete

Im Universitätsalltag zeichnet Schneider verantwortlich für die Schülerprogramme des Exzellenzclusters PRISMA – Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter). An diesem Sonntagmorgen allerdings ist er als Leiter des Weltrekord-Projektteams unterwegs. Von ihm stammt die Idee, den größten magnetischen Kugelbeschleuniger der Welt zu bauen.

"Vor anderthalb Jahren ist Christian mit dem Vorschlag für die Kugelbahn zu mir gekommen", erinnert sich Karl-Heinz Geib, Maschinenbaukonstrukteur von der Arbeitsgruppe Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik, kurz ETAP, am Institut für Physik der JGU. Damals war die Strecke für die Mainzelbahn, die neue Straßenbahnlinie der Stadt Mainz, gerade im Bau. Sie führt parallel zur Saarstraße direkt am Campus vorbei. "Es lag nahe, unsere Kugelbahn auf die Schienen zu setzen." So war schon mal für ein halbwegs gerades und solides Fundament gesorgt.

"Die Teile für unsere Kugelbahn sind in der mechanischen Werkstatt der Physik entstanden", erklärt Geib. "Das Fräsen der vielen Holzblöcke, die in regelmäßigen Abständen die Aluminiumleisten einige Zentimeter über dem Straßenbahngleis halten, war die größte Arbeit."

Schülerinnen und Schüler des Rabanus-Maurus-Gymnasiums und des Otto-Schott-Gymnasiums in Mainz haben geholfen, die Leisten zu montieren. Sie wuseln in ihren roten T-Shirts mit einem extra kreierten Rekordversuch-Logo um die Strecke herum und schauen, ob alles in Ordnung ist. Eben haben sie die rund 700 Stahlkugeln und 350 Magneten für den Versuch platziert: Alle anderthalb Meter muss ein Magnet auf der Schiene liegen, gefolgt von zwei Kugeln.

Ein Fest zum Versuch

Chakir Laabdallaoni vom Rabanus-Maurus-Gymnasium erklärt, wie alles funktioniert: "Eine Kugel rollt auf einen Magneten zu. Sie wird vom Magnetfeld angezogen, beschleunigt und stößt auf den nächsten Magneten." Dieser Stoß setzt sich fort über Magnet und erste Kugel bis hin zur zweiten Kugel, die ihrerseits losrollt in Richtung des nächsten Magneten mit seinen Kugeln. Die Schülergruppen haben das auf kürzeren Strecken im Vorfeld geprobt. "Auf unserer Teststrecke über 24 Meter hat alles super geklappt." Aber nun soll die Kettenreaktion über 546 Meter lückenlos funktionieren. Da könnte einiges schiefgehen.

"Es besteht die Gefahr, dass die Magneten, die in den Alu-Schienen liegen, ab 80 Grad Celsius an Ladung verlieren", beschwört Schneider einen weiteren persönlichen Albtraum. "Auf den Schienen mitten in der Sonne ist so eine Temperatur schon möglich." Auch die Zuschauer könnten den Versuch beeinträchtigen. "Was ist, wenn ein Hund hinter den Kugeln herjagt?" Geib lächelt. Er lässt sich nicht nervös machen.

Aus dem Rekordversuch ist über die Monate entschieden mehr geworden: In einer Zeltlandschaft am Startpunkt des Weltrekordversuchs stellen Institutionen rund um das Exzellenzcluster PRISMA und die Exzellenz-Graduiertenschule Materials Science in Mainz ihre Arbeit vor. Zudem gibt es zahlreiche Vorträge und Führungen, zu denen sich bereits im Vorfeld 250 Besucherinnen und Besucher angemeldet hatten. Die Mainzer Physiker-Band "Quantum Noise" spielt auf einer eigens errichteten Bühne und natürlich gibt es Bratwurst, und – an diesem Tag besonders nachgefragt- gekühlte Getränke. Die Allgemeine Zeitung Mainz ist als Medienpartner dabei, ZDF, SWR Radio und Fernsehen, Deutschlandfunk, Radio RPR1 und CampusTV Mainz sind mit Aufzeichnungsteams vor Ort. Schneider gibt Interview um Interview.

Die Idee zum größten magnetischen Kugelbeschleuniger der Welt fand auch deswegen ein so vielfältiges Echo, weil es nicht einfach ein öffentlichkeitswirksamer Gag sein soll. Die Bahn hat einiges mit PRISMA zu tun: Sie veranschaulicht, was in einem Teilchenbeschleuniger wie dem Mainzer MAMI passiert.

PRISMA präsentiert Wissenschaft

Kurz vor Beginn des Rekordversuchs erklären die PRISMA-Koordinatoren Prof. Matthias Neubert und Prof. Dr. Hartmut Wittig dem versammelten Publikum, worum es ihnen ganz besonders geht. "Wir Physiker sind fasziniert von unserer Arbeit", so Neubert. "Und es ist uns wichtig, diese Faszination immer wieder nach außen zu tragen."

Diesen Gedanken nimmt der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling in seinem Grußwort auf: "Das hier ist Wissenschaft in die Stadt getragen", bekräftigt er. Und Prof. Dr. Konrad Wolf, Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz und selbst Physiker, betont: "PRISMA betreibt nicht nur exzellente Wissenschaft, sondern auch exzellente Wissenschaftsvermittlung." Wolf hat gemeinsam mit der rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig die Schirmherrschaft über den Rekordversuch übernommen.

Universitätspräsident Prof. Dr. Georg Krausch lobt die Stadt und ihre Verkehrsbetriebe: "Ohne deren Bereitschaft, sich auf so etwas Verrücktes einzulassen und einen halben Tag den Straßenbahnverkehr einzustellen, wäre das alles gar nicht möglich gewesen." Mit Blick auf die große Schar der Neugierigen, die die Versuchsstrecke säumen, meint er: "Das Projekt ist jetzt schon ein voller Erfolg."

Ob es allerdings ein Erfolg im Sinne der Guinness World Records wird, entscheidet Lena Kuhlmann als offiziell bestellte Richterin. Sie ist seit Jahren Profi im Rekordgeschäft und wurde in London dafür ausgebildet. "Die Strecke für diesen Versuch musste offiziell vermessen werden und es muss sicher gestellt werden, dass die Kugeln ohne jede menschliche Kraft beschleunigt werden", betont sie. Kuhlmann wachte bereits über viele Rekordversuche. Sie hat Schräges und Verrücktes gesehen. "'Verrückt' ist für mich allerdings kein Maß", sagt sie. "An diesem Weltrekordversuch fasziniert mich die Präzision über so eine lange Strecke."

Die Kugeln rollen

Zum Start des Rekordversuchs drücken Krausch und Ebling gemeinsam den roten Knopf, der die erste Kugel freigibt. Sie wird vom ersten Magneten angezogen und prallt auf, dann rollt die zweite Kugel auf den zweiten Magneten. Die Kettenreaktion ist im Gang. Am ersten Streckenposten steht Wissenschaftsminister Konrad Wolf, um durch Anheben einer roten Fahne anzuzeigen, dass die Kugel seinen Posten planmäßig passiert hat. Im weiteren Verlauf steht alle 25 Meter eine Schülerin oder ein Schüler ebenfalls mit eine roten Fahne in der Hand. Für den Guinness World Records-Rekordtitel muss die Kettenreaktion 500 Meter ungestört ablaufen, 546 Meter sind aufgebaut – in Anlehnung an die Wiedereröffnung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Mai 1946.

Zuerst geht es zügig. Alles rollt nach Plan. Dann jedoch scheinen die Kugeln langsamer zu werden, zumindest vom Startpult aus. Über bange Sekunden zeigt sich keine neue Fahne. Sind die Magneten zu schwach geworden? Nein, es geht weiter. Die Kugeln werden sogar wieder schneller. Sie erreichen die 500-Meter-Marke und rollen weiter bis ans Ende.

Der Jubel ist groß. Die Band "Quantum Noise" spielt "We are the Champions". "Das war wirklich sehr, sehr beeindruckend", meint Rekordrichterin Lena Kuhlmann. Sie überreicht die Urkunde zum offiziellen Guinness World Records-Titel und fügt mit einem freudigen und sympathischen Lächeln hinzu: "Die JGU ist jetzt 'officially amazing'."