21. April 2015
Fachbücher zur Hirnforschung, zur Philosophie und Psychologie des Geistes sind teuer – und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist das gedruckte Wort oft schon veraltet. Das Open MIND Project soll hier Abhilfe schaffen. Es bietet ein Kompendium an hochkarätigen Fachaufsätzen frei zugänglich im Internet. Initiator dieses Riesenunternehmens ist Prof. Dr. Thomas Metzinger vom Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).
Auf blauem Grund wandern majestätisch große Begriffe über den bescheidenen Bildschirm des Notebooks. "… stream of consciousness … knowledge ... neural networks … minimalism … Buddhism ..." Weiß strahlen die Buchstaben. Immer kleiner werden sie, je tiefer der Betrachter in den Kosmos der Worte vorstößt, bis sich in der Mitte alles ballt zu einem weißen Nebel, zu einer Galaxis des Wissens.
Man kann die Wolke aus philosophisch-kognitionswissenschaftlichen Stichworten mit dem Mauszeiger in alle Richtungen bewegen und auch immer tiefer in sie hineinfahren. Wenn der Benutzer auf einen der Fachbegriffe klickt, wird er direkt zu allen Texten geführt, in denen dieser auftaucht. Die Wolke ist ein dynamischer Index, ein Tor in die moderne Philosophie – und natürlich symbolisiert sie auch den "offenen Geist".
"Dieses Projekt war wesentlich schwieriger und mit mehr unerwarteten Problemen versehen als ich dachte", meint Prof. Dr. Thomas Metzinger vom Philosophischen Seminar der JGU, "und ich bin noch immer nicht ganz fertig damit." Eine Stunde hat er Zeit, über das Open MIND Project zu erzählen. Gleich im Anschluss interviewen ihn Journalisten vom SPIEGEL, allerdings zu einem anderen Thema.
Ein Sack von Flöhen
Metzingers Büro im Philosophicum wirkt beinahe altmodisch. Auf der breiten Fensterbank züchtet er Kakteen. Gegenüber hängt eine Tafel über einem roten Sofa. Kreide liegt bereit. "Wären Sie ein paar Tage eher gekommen, wäre hier noch alles voller merkwürdiger Formeln gewesen", erzählt Daniela Hill, die in der Schlussphase das studentische Team des Open MIND Project leitete und in den letzten Wochen organisatorisch einiges zu leisten hatte. Sie telefonierte, korrigierte, mahnte. Und behielt den Überblick.
"Koordination auf diesem Level habe ich noch nie erlebt", sagt sie rückschauend. "Das war eine Herausforderung." – "Zusammen mit meiner Doktorandin Ying-Tung Lin aus Taiwan war sie meine Top-Managerin, sie hat einen Sack von Flöhen zusammengehalten", ergänzt Metzinger lächelnd.
In kürzester Zeit ist ein Kompendium von hoch aktuellen Aufsätzen zu Fragen der Philosophie, der Psychologie und der Neurowissenschaften entstanden. Dabei handelt es sich um Originalbeiträge berühmter Wissenschaftler einerseits und von aufstrebendem Nachwuchs andererseits, frei verfügbar übers Internet. Einzig eine Sprachbarriere wird manch einer zu überwinden haben, denn die Texte auf der Plattform open-mind.net sind ausnahmslos auf Englisch verfasst.
Das Open MIND Project ist ein Geschenk. "Eine Spende geistigen Eigentums" nennt Metzinger es. "Im Jahr 2003 habe ich eine interdisziplinäre Forschungsgruppe gegründet, die MIND Group." Junge Philosophen und Wissenschaftler aus aller Welt, oft noch Studierende, kamen zusammen, um zu diskutieren und Vorträge von renommierten Fachleuten zu hören – jenen Fachleuten, die später Artikel für das Projekt beisteuern sollten.
Geschenk vom Geburtstagskind
"Wir überlegten uns, was wir zum zehnten Geburtstag der Gruppe machen sollten", erzählt Metzinger. "Wir hätten eine große Konferenz abhalten können, hätten mit einem enormen CO2-Fußabdruck die Atmosphäre belasten und unser Jubiläum mit einem großen, aber vergänglichen Event feiern können. Stattdessen entschlossen wir uns, sehr gute Texte zu produzieren – etwas, das einen bleibenden Wert für andere Menschen besitzt, gleichzeitig der Nachwuchsförderung dient und das dabei ein neues Modell für autonomes Publizieren entwickelt und testet."
In vielen Regionen der Erde ist es gerade für Studierende schwer, an aktuelle und fundierte Artikel zu Themen der Philosophie oder Neurowissenschaft zu kommen. Besonders Brasilien, China und Indien hat Metzinger da im Blick. "Leider sind die Nutzerzahlen von dort noch nicht so hoch, wie ich mir das wünsche – aber wir arbeiten daran."
Bücher sind teuer. "Und bis ein Aufsatz veröffentlicht ist, sind mindestens anderthalb Jahre vergangen", sagt Metzinger. Der Autor sei dann längst weiter auf seinem Feld, das Geschriebene bereits veraltet. "Teil unserer Idee war, alles selbst zu machen, hohe Qualitätsstandards zu halten und es schneller zu machen als jede Fachzeitschrift und jeder kommerzielle Verlag. Tatsächlich schafften wir es, die Texte auf open-mind.net innerhalb von etwas mehr als zehn Monaten zu veröffentlichen."
Zu Beginn rekrutierte Metzinger über seine zahlreichen Verbindungen Sponsoren. "Dann habe ich 39 sehr berühmte Experten, die Senior Members der MIND Group, mit einem Honorar gelockt, vertraglich gebunden – und die Juniormitglieder der Gruppe, viele von ihnen Mainzer Studierende, durften die Target Papers kritisch kommentieren."
Nachwuchs kritisiert Koryphäen
Alle Texte wurden in einem anonymen Peer Review-Prozess von jungen Mitgliedern der MIND Group bearbeitet und beurteilt, aber auch von Metzinger und seiner Mainzer Mitherausgeberin Dr. Jennifer Windt – die sich gleich in ihrer ersten Bewerbung nach der Promotion gegenüber 300 anderen Kandidaten durchsetzte und jetzt im australischen Melbourne lehrt. "Dieser Ansatz war für manche nicht leicht zu verkraften. Wir mussten sogar einige Beiträge wegen mangelnder Qualität ablehnen." Denn um Qualität ging es vor allem.
Die Junior-Mitglieder durften Kommentare zu den Aufsätzen schreiben. "Wir konnten uns selbst einen Aspekt heraussuchen, wir hatten alle Freiheiten", erzählt Hill. Sie nahm sich den Artikel "On the Eve of Artificial Minds" des kanadischen Philosophieprofessors Chris Eliasmith vor. "Es war nicht leicht, sich für einen konkreten Aspekt zu entscheiden. Man hätte einiges dazu schreiben können. Ich habe viel aus dieser Arbeit gelernt, nicht nur in fachlicher Hinsicht."
Während des gesamten Projekts war Metzinger auch die Entwicklung neuer Formen der Nachwuchsförderung ein wichtiges Anliegen. Die jungen Mitglieder seiner MIND Group sollen bereits früh Texte veröffentlichen können und das am besten an prominenter Stelle. Gerade bei deutschen Studierenden hatte der Professor Probleme ausgemacht, wenn es darum ging, Beiträge auf Englisch zu verfassen. Das sollten sie hier einüben.
Vor allem aber traten die Nachwuchskräfte jetzt in direkten Dialog mit Kapazitäten des jeweiligen Fachs. Sie erlebten, dass diese durchaus empfindlich auf Kritik reagieren können. "Wir forderten die Wissenschaftler auch auf, eine Erwiderung zum Kommentar ihrer Texte zu schreiben. Viele haben das gut gelöst." Aber nicht alle: Das schwingt mit in Metzingers Worten.
Aus dem Netz ins Buch
Am Ende ist er aber hoch zufrieden mit dem Ergebnis, trotz alle Fallstricke und Probleme. "Jeder durfte das schreiben, was er interessant fand, von Essays bis zu knallharten naturwissenschaftlichen Papers. Herausgekommen ist ein bunter Querschnitt von dem, was wirklich aktuell ist in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Philosophie, ein Überblick über die Hauptströmungen."
Mittlerweile haben die Beiträge des Open MIND Project sogar den Sprung von der digitalen in die analoge Welt geschafft. Der vielleicht beste Wissenschaftsverlag der Welt, MIT Press, wird das Kompendium drucken und zwischen zwei Buchdeckel pressen. "Der Band wird um die 1.700 Seiten haben und knapp 200 Euro kosten", schätzt Metzinger. "Und das ist vielleicht einer der wichtigsten Erfolge unserer Initiative, an der auch Dr. Jennifer Windt einen sehr großen Anteil hat: Weil die inhaltliche Qualität überzeugend war, haben wir jetzt am Ende das Beste aus beiden Welten, nämlich weltweite, kostenfreie Verfügbarkeit und ein Buch in einem prominenten Verlag."
Das könnte Antrieb sein, weiterzumachen – oder? So kurz nach der Mammutaufgabe schüttelt Metzinger den Kopf. Die zwei ersten Jahre seines Fellowship am Gutenberg Forschungskolleg (GFK) der JGU hat er investiert in das Projekt, das viele Nerven gekostet hat, das mit so viel Aufwand verbunden war. "So etwas mache ich nie wieder", sagt er. Aber das ist im Grunde immer zu hören nach einem Projekt dieser Größenordnung.