20. August 2018
Das Thema Gewalt in der Altenpflege taugt zwar immer mal wieder zu skandalösen Schlagzeilen, aber weder die deutsche Politik noch die Wissenschaft kümmern sich bisher allzu sehr darum. Konzepte zum Schutz vor Gewalt sind wenig vorhanden. Das muss sich ändern, meint Prof. Dr. Cornelia Schweppe von der AG Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).
Wenn Prof. Dr. Cornelia Schweppe von ihrer Forschung berichtet, fließt viel persönliches Erleben ein. Ihre Arbeit lässt sie nicht kalt. "Ich mache Ihnen am besten an einem Beispiel klar, worum es mir geht", meint sie – und beginnt zu erzählen.
"Vor ein paar Tagen bin ich aufgewacht und hörte Hilferufe, verbunden mit einem bitterlichen Weinen. Beides kam aus der Wohnung eines älteren Ehepaars." Schweppe rief die Polizei, die prompt kam. Die Beamten seien sehr empathisch gewesen. Sie klingelten bei dem Ehepaar und erkundigten sich, was das Problem sei. "Danach erzählten sie mir, dass die Frau pflegebedürftig sei, dement und orientierungslos. Schreien und Weinen wurden auf ihre Demenz zurückgeführt. Aber ihr Mann kümmere sich um sie, ich bräuchte mir keine Sorgen machen. Die Anwesenheit des Mannes haben sie automatisch als Schutz für die Frau dargestellt. Es wurde gar nicht weiter geschaut, ob ihr vielleicht Leid zugefügt wird."
Ansprechpartner fehlen
Die Situation wiederholte sich. Schweppe kam ins Grübeln. "An wen können sich Leute wenden, wenn sie das Gefühl haben, in ihrer Nachbarschaft läuft bei älteren Menschen vielleicht etwas schief? In der Kinder- und Jugendhilfe haben wir dafür viele Angebote. Es gibt Sorgentelefone, Programme zur Gewaltprävention und noch einiges mehr. In der Altenpflege aber findet sich kaum etwas, kein Notruf, keine zuständige Stelle, nichts. Die Polizei ist in solchen Dingen häufig der einzige Ansprechpartner. Aber sie kann nur wenig tun und ist für Fragen der Demenz kaum ausgebildet." Schweppe holt tief Luft. "Zuletzt habe ich den Weißen Ring angerufen, aber auch dort wusste man nicht weiter."
Mit Altenhilfe und -pflege beschäftigt sich Schweppe in vielfacher Hinsicht. Sie hat bereits einige Forschungsvorhaben dazu ins Leben gerufen. Dabei schaut sie gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor allem auch über die Grenzen Deutschlands. "Wir haben es mit einem Problemkomplex zu tun, den wir international bearbeiten", betont sie. Das geschieht unter anderem im Research Center for Transnational Social Support (TRANSSOS), an dem neben dem Institut für Erziehungswissenschaft der JGU auch das Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim beteiligt ist, oder im DFG-Projekt "Entwicklung und Bedeutung transnationaler Altenpflegearrangements", das Schweppe im Verbund mit der niederländischen Universität Nijmegen auf den Weg gebracht hat.
Wenn es um Gewaltprävention in der Altenpflege geht, läuft laut Schweppe in Deutschland grundsätzlich etwas schief. "Wir sind auf diesem Gebiet ein Entwicklungsland."
"Pflege findet in Deutschland vor allem zu Hause statt." Eine Heimunterbringung wird meist nur gewählt, wenn es gar nicht mehr anders geht. Sowohl bei den Pflegebedürftigen als auch bei den Angehörigen wird dies oft als unmenschliche Alternative angesehen. "In den Niederlanden sieht das anders aus", erzählt Schweppe. "Dort ist Heimunterbringung die Regel. Der Staat übernahm bereits in den 1960er-Jahren in hohem Maße die Verantwortung für die Pflege und es ist ganz normal, alte Menschen im Heim unterzubringen." In jüngerer Zeit allerdings lasse sich eine Trendwende ausmachen. "Leider: der Staat zieht sich langsam aus der Verantwortung zurück. Das ist natürlich auch eine Geldfrage."
Strukturen fördern Gewalt
Von knapp drei Millionen pflegebedürftigen alten Menschen in Deutschland werden über zwei Millionen zu Hause gepflegt. "Pflege ist eine ungeheure Belastung für die Angehörigen." Da komme es natürlich zu Fehlverhalten. Dafür aber die Pflegenden verantwortlich zu machen, greife zu kurz. "Man darf die Fälle von Gewalt nicht personalisieren, man muss auf die Pflegebedingungen schauen."
Mobile Pflegedienste bieten nur begrenzt Hilfe. "Dort muss im Minutentakt gepflegt werden und Aspekte wie die medizinische oder die hygienische Versorgung stehen im Vordergrund. Da bleibt kaum Zeit für Emotionalität oder individuelle Bedürfnisse." Dies treffe auch auf viele Pflegeheime zu. Solche Strukturen führten ebenfalls zu Fehlverhalten, für das einzelne Pflegerinnen oder Pfleger kaum verantwortlich zu machen seien.
"Es ist ja bekannt, dass wir einen erheblichen Personalmangel in der Pflege haben. Ich sprach mit einer Heimleiterin, die mir sagte: 'Egal, wer sich bewirbt, bei uns kommt jeder unter.' Neuerlich ist die Politik auf die Idee gekommen, dem Pflegekräftemangel durch Flüchtlinge zu begegnen. Das kann keine Lösung sein." In Privathaushalten werde der Pflegenotstand zunehmend durch 24-Stunden-Pflegearbeiterinnen aus dem Ausland gestopft, die in der Regel über keine Pflegeausbildung verfügten. "Es wird geschätzt, dass 300.000 Pflegearbeiterinnen in Privathaushalten tätig sind, viele davon werden schwarz beschäftigt. Dort wissen wir praktisch nichts über die Qualität."
All diese Strukturen sind ein Nährboden für Gewalt. "Eigentlich weiß man das und trotzdem wird nichts getan", kritisiert Schweppe.
Öffentliches Bewusstsein herstellen
Erste Vorschläge, wie sich die Situation verbessern lässt, hat sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen erarbeitet: "Für Altenheime regen wir zum Beispiel organisationale Schutzkonzepte an, damit diese ihren Bewohnerinnen und Bewohnern gewaltfreie und sichere Orte des Lebens bieten. Hier können wir viel von der Kinder- und Jugendhilfe lernen, in der solche Konzepte zunehmend entwickelt werden, getragen von einem hohen politischen Interesse. Man nimmt Abstand von einer Personalisierung von Gewalt und sieht es als organisatorische Aufgabe an, den Alltag so zu gestalten, dass Gewalt reduziert wird."
Anfang März 2018 lud das Institut für Erziehungswissenschaft der JGU in Zusammenarbeit mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum internationalen Symposium "Protection against Violence in Home Care Settings for Older Adults" ein. "Das war eine der wenigen Konferenzen zu diesem Thema in Deutschland. Wir konnten Gäste aus Israel, Argentinien, Kanada und den USA begrüßen. In all diesen Ländern gibt es vielfältige Programme zum Schutz vor Gewalt in der Pflege. Wir haben gefragt: 'Wie habt ihr es geschafft, dass es überhaupt Thema wird?' Sie meinten, der einzige Weg sei, öffentliches Bewusstsein dafür herzustellen."
"Das Symposium hat große Aufmerksamkeit erfahren, einschließlich Berichterstattung im ZDF heute journal", freut sich Schweppe, stellt zugleich aber fest: "Insgesamt ist es dringend notwendig, ganz neu über Pflege nachzudenken, um sie zu entspannen und das Recht auf Schutz vor Gewalt für Leib und Seele zu gewährleisten. Davon sind wir noch weit entfernt."