18. August 2014
Dolmetschinszenierungen geben der Lehre am Germersheimer Fachbereich 06: Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) eine neue Dimension. Studierende schlüpfen in unterschiedlichste Rollen und können sich so mit Facetten des Dolmetschens vertraut machen, die sonst oft zu kurz kommen. Es geht um Empathie, um Körpersprache und vieles mehr.
Vor neun Jahren wurde D. zwangsverheiratet. Ihr Mann ist entschieden älter als sie. In ihrer Ehe hat die 42-Jährige viel Gewalt erlebt. Eine Zeit lang fand sie Rückhalt in der Religion, doch auch das war irgendwann vorbei. Sie flüchtete mit ihren beiden kleinen Kindern nach Deutschland in ein Frauenhaus.
Nun fordert ihr Mann, dass sie ihn nachholt. Drohungen stehen im Raum – nicht nur von ihm, auch von anderen Familienmitgliedern und aus ihrer Gemeinde vor Ort. Die Behörden wünschen, dass D. die Region verlässt, um Abstand und Sicherheit zu schaffen. Das möchte D. nicht. Gespräche müssen geführt werden: im Frauenhaus, wo es Probleme gibt, und auch mit den Behörden. Doch D. kann kein Deutsch.
Der simulierte Einsatz
Am Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wird aus D.s Geschichte ein Rahmenszenario, mit dem Studierende in einer innovativen Form der Dolmetschübung arbeiten. Ein Trainerinnenteam unter der Leitung von Dr. Şebnem Bahadır verwendet stets reale Fälle als Ausgangsmaterial für das außergewöhnliche Lehrprojekt "Dolmetschen als Inszenierung".
Bahadır ist unter anderem Modulverantwortliche für den Masterstudienschwerpunkt "Fachdolmetschen in sozialen, medizinischen und juristischen Einsatzbereichen" am Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik des FTSK. Hier führte sie im Jahr 2013 die Methode der Dolmetschinszenierung ein, die sie in Zukunft auch für andere Bereiche der Translatorenausbildung nutzbar machen will.
Zwei Tage lang werden Dolmetschsituationen mit theaterpädagogischen Methoden aufbereitet, geprobt und aufgeführt. Dazu holt sich Bahadır jeweils Fachkräfte von außen hinzu: Diesmal sind es Petra Wolf, Leiterin des Frauenhauses Bad Kreuznach, Psychologin Thekla Goschniak vom Frauenhaus Frankenthal sowie Dolmetscherin und Psychotherapeutin Inge Pinzker aus Wien. Sie spielen die Ansprechpartnerinnen für D., während die Studierenden in die übrigen Rollen schlüpfen: Einerseits verkörpern sie D., vor allem aber versuchen sie sich als Dolmetscherinnen und Dolmetscher in verschiedensten Gesprächskonstellationen.
Das inszenierte Gespräch
Pinzker, der Dolmetscher und D. sitzen sich gegenüber. Ihre Stühle stehen im Dreieck. "Mich würde interessieren, was Sie gerade belastet, was Ihnen durch den Kopf geht", sagt Pinzker. D. nestelt an ihrem Halstuch, mal schaut sie zum Dolmetscher, dann wieder zur Psychotherapeutin. Sie wirkt verunsichert, vielleicht ängstlich. Der Dolmetscher knetet seinen Notizblock und gibt sich doch betont sachlich. Er dolmetscht ins Türkische und umgekehrt. "Sie hat sehr große Angst, auch um ihre Kinder." – "Ist es also die Angst, die im Vordergrund steht?", hakt Pinzker nach. Die übermittelte Antwort: "Ja, ich bin in einem fremden Land, das ich nicht kenne."
Eine Kamera nimmt das Geschehen auf. Um das Trio herum sitzen vier Studierende, Birsen Serinkoz, eine von Bahadırs Co-Trainerinnen, und Bahadır selbst, die es allerdings nicht lange auf ihrem Stuhl hält. Nach wenigen Minuten unterbricht sie die Inszenierung.
"Die erste Frage geht immer an den Dolmetscher: Wie haben Sie sich gefühlt? Wie ist es Ihrer Meinung nach gelaufen?" – "Ich habe mich nicht entscheiden können, ob ich in der ersten oder der dritten Person sprechen soll", beginnt der Studierende mit der Reflexion. "Ich habe auch noch ein Problem mit der Übertragung der Emotionen." Die Studierende, die D. spielte, schildert ihre Eindrücke: "Ich fühle mich dem Dolmetscher nicht nahe."
Die Details des Dolmetschens
Dann schildert Bahadır ihre Eindrücke. Sie thematisiert die Situation im Raum. Wie sitzen die drei zueinander? Ist das in Ordnung so? Sie erwähnt den Notizblock des Dolmetschers. "Das war Ihr Rettungsanker." Auch die Studierenden kommen zu Wort: Was wurde wie gedolmetscht, was weggelassen, was modifiziert? Viele scheinbar nebensächliche Details kommen zur Sprache. Ihre Bedeutung wird plötzlich klar.
Solch eine Besprechung könnte einschüchtern, könnte verletzen. Doch in dieser Dolmetschinszenierung ist der Ton nie kränkend, die Kritik bleibt konstruktiv. Manchmal wird sie sogar entschärft durch einen Hauch Humor – oder durch Bahadırs besondere Art: Was immer auch beim dolmetschenden Studierenden an emotionaler Ausdruckskraft fehlen mag, bei ihr ist es reichlich vorhanden. Empathie hält sie offensichtlich nicht nur für eine wichtige Facette des Dolmetschens, Empathie gehört auch zu ihrer Art der Lehre.
Die Inszenierungen finden an diesem ersten Tag in kleinen Gruppen statt, die Betreuung ist intensiv. Bahadır arbeitet mit vier Co-Trainerinnen. An drei Orten und in drei Sprachen werden verschiedenste Gespräche zum Fall D. durchgespielt. D. ist mal Russin, dann wieder spricht sie Arabisch oder eben Türkisch.
Dabei geht es um Aspekte, die bei einer klassischen Dolmetschausbildung oft zu kurz kommen: um Emotionen, um nonverbale Kommunikation, um Machtansprüche, um kulturelle oder persönliche Aspekte – sei es nun aufseiten der Klienten oder der Dolmetschenden.
Der geschützte Raum
"Wir arbeiten an der Dolmetschkompetenz Stück für Stück über zwei Semester hinweg", erzählt Serinkoz. "Dabei arbeiten wir wenig mit schriftlichem Material. Jeder soll seine eigene Ausdrucksform finden. Wir fangen immer an mit dem Raum, mit der Position, in der man sitzt. Dann geht es weiter mit der Körpersprache und mit anderen Signalen." Russisch-Co-Trainerin Anna Herrmannn ergänzt: "Jeder soll ein Gefühl dafür bekommen, wie der eigene Körper funktioniert." Hier helfen auch die Aufnahmen von den Gesprächen, die sich die Studierenden immer wieder anschauen können.
Unterstützt wird Bahadırs innovatives Lehrprojekt vom Gutenberg Lehrkolleg der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und vom rheinland-pfälzischen Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen. Unterstützt wird es auch von externen Fachkräften aus verschiedensten Bereichen, von denen einige mittlerweile Stammgäste bei den Inszenierungen sind. "Wichtig ist, dass diese Leute zu uns an die Universität kommen", meint Bahadır. "Hier haben wir einen geschützten Raum für die Studierenden, in dem sie lernen können."
D. ist wieder im Gespräch, diesmal mit der Psychologin Goschniak. Eine Studentin spielt D. als leicht desorientierte, deprimierte Frau. Es geht um Alltagsprobleme im Frauenhaus. D.s Zimmergenossinnen, eine Polin und eine Eritreerin, haben sich beschwert über Kochgerüche und Essensgewohnheiten. D. will nicht einsehen, dass sie ihren Teil zum harmonischen Ablauf in der Gemeinschaft beitragen muss. Die Dolmetscherin hat es schwer mit D., mit der gesamten Situation. Sie macht sich Notizen, kommt aber gerade dabei aus dem Takt.
Co-Trainerin Yasmine Khaled schaltet sich ein. Wieder geht es bei der Besprechung ins Detail. "Haben Sie den Eindruck, dass der Block geholfen hat?" So beginnt auch diese Feedbackrunde. Es sind zwei anstrengende Tage für alle Beteiligten. Denn der Fall D. hat es in sich – und die Facetten des Dolmetschens sowieso.