Faszination der Turkologie

25. Januar 2019

Über Jahrzehnte hinweg hat Prof. Dr. Dr. h.c. Lars Johanson die Turkologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und weit darüber hinaus geprägt und bereichert. 2001 wurde er emeritiert, doch er bleibt bis heute höchst aktiv in seinem Fach. Als Gastprofessor besuchte er unter anderem China, Australien, Ungarn und die Türkei, als Autor ist er unermüdlich bei der Arbeit, als Mentor gibt er immer neue Impulse.

Er hat noch viele Pläne. Es gibt noch so viel zu erforschen und zu veröffentlichen. "50 Jahre brauche ich mindestens, um alles zu verwirklichen", meint Prof. Dr. Dr. h.c. Lars Johanson. Seine Mundwinkel zucken dabei verdächtig. In den nächsten Tagen wird er ein umfangreiches Manuskript an die Cambridge University Press schicken. "Turkic" heißt das rund 800-seitige Werk. "Es befasst sich mit allen Türksprachen und unserem Hintergrundwissen dazu." Eine vierbändige "Encyclopedia of Turkic Languages and Linguistics" ist ebenfalls in Arbeit. "Natürlich schreibe ich dort nicht jeden Beitrag selbst", erklärt der 82-Jährige. "Wir haben einen Stab von hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aber ich werde alles redigieren."

Johanson und seine Frau Éva Á. Csató Johanson haben es sich bequem gemacht im Wohnzimmer ihrer Wohnung im Mainzer Stadtteil Bretzenheim. An den Wänden stehen Regale voller Bücher – wie beinahe überall in ihren Räumen. Der vielbändige Brockhaus mit seinen mächtigen Bänden fällt zwischen all der Fachliteratur ins Auge. Selbstverständlich stammen die Einträge zu den Türksprachen darin von Johanson.

Pensionierung brachte Zeit für Forschung

Die JGU lässt sich von hier aus bequem zu Fuß erreichen, mit dem Stadtbus sind es nur wenige Minuten. "Ich gehe immer noch gern in Seminare", erzählt Csató Johanson. "Die Universität gefällt uns sehr." Die gebürtige Ungarin war die erste Professorin für Turkologie in Uppsala. Ihr Mann wiederum, geboren im schwedischen Köping, kam als erster ordentlicher Turkologie-Professor nach Mainz. Das Ehepaar arbeitet Hand in Hand, eine lange Reihe wichtiger Veröffentlichungen zur Turkologie trägt beider Namen.

"Seit der Pensionierung haben wir wirklich Zeit zu arbeiten", sagt Johanson. 2001 wurde er an der JGU emeritiert. Prompt folgten Gastprofessuren an der La Trobe University im australischen Melbourne und der Bosporus University in Istanbul, an der Universität Zürich und der ungarischen Universität Szeged. "Wir beide haben permanente Gastprofessuren an der Universität für nationale Minderheiten in Peking", ergänzt Johanson die Aufzählung, die sich noch lange fortführen ließe.

Zwischen all den Auslandsaufenthalten kommt Johanson immer wieder gern nach Deutschland und speziell nach Mainz. "Ich empfinde die Stadt als sehr fröhlich, lebendig und aufgeschlossen." Bereits als Gymnasiast besuchte er über einen Schüleraustausch München. "Es war fantastisch für mich, solch eine Großstadt zu erleben mit ihrer tollen Architektur, der italienischen Stimmung, der blauen Straßenbahn und alledem."

Johanson studierte in Uppsala, Stockholm und Wien. "Ich war recht breit aufgestellt", meint er lakonisch. Germanistik stand auf dem Programm, Skandinavistik, Slavistik, Turkologie, Vergleichende Sprachwissenschaft und Orientalische Philologie. "Auch für Sanskrit interessierte ich mich." Am Ende entschied er sich für die Turkologie. "Mich faszinierte die Struktur der türkischen Sprachen. Die Syntax ist völlig anders, als wir das kennen." Einerseits seien sich die Türksprachen untereinander in vielerlei Hinsicht ähnlich. "Sie lassen sich deswegen gut vergleichen." Andererseits gebe es große Unterschiede. "Jakutisch etwa finde ich faszinierend. Jakutien ist so weit weg, die Sprache ist völlig unähnlich dem, was wir sonst haben, und sie ist sehr vital."

Ruf in die Hauptstadt der Turkologie

Die Familie der Türksprachen umfasst an die 30 Idiome, die alle auf ein Urtürkisch zurückgehen. "Sie werden in einem riesigen Raum gesprochen", erzählt Csató Johanson, "in der Türkei und auf dem Balkan, in Zentralasien bis nach China und bis ans nördliche Eismeer." Überall stoßen sie auf andere Sprachen, Austausch findet statt, auf staatlicher Ebene gibt es Reibungen. "Das ist ein riesiges, herrliches Sprachlabor", schwärmt Johanson.

Er interessierte sich von Beginn an besonders für die sprachwissenschaftliche Seite, auch wenn Philologie und Gesellschaft immer mitschwangen. In seiner Promotion untersuchte Johanson den "reichstürkischen Verbalsyntax", in seiner Habilitation das "türkeitürkische Aspektsystem". Beide Arbeiten legte er an der Universität Uppsala vor. 1973 erfolgte die Umhabilitation nach Mainz als Professor der Turkologie. 1982 wurde eine C4-Professur daraus. Csató Johanson zeigt die gerahmte Urkunde zur Antrittsvorlesung vom 17. Februar 1983: "Grenzen der Turcia – Verbindendes und Trennendes der Türkvölker".

"Im August 1981 bekam ich zwei Rufe gleichzeitig, einen nach Frankfurt und einen nach Mainz", erinnert sich Johanson. "Das ist sonst nie passiert in der Geschichte der Turkologie. Unser Fach ist so klein, da gibt es selten Rufe. Ich entschied mich natürlich für Mainz, weil es die Hauptstadt der Turkologie in Deutschland war." Der Turkologe Prof. Dr. Johannes Benzing hatte einigen Anteil daran. Als Professor für Orientalische Philologie leitete er über Jahre das Seminar für Orientkunde der JGU.

"In der Turkologie hatte ich damals keine Ressourcen, und es gab nur eine halbe Assistentenstelle. Aber über Drittmittel konnte ich die besten Leute aus der ganzen Welt nach Mainz holen. Das Studium war sehr frei, die Studierenden konnten viel gestalten – und das taten sie. Ich lernte sehr engagierte junge Menschen kennen." Auch Johanson selbst gestaltete: Er prägte die Turkologie in Mainz mit seinem sprachwissenschaftlichen Ansatz. Er forschte in Kooperationen wie dem fächerübergreifenden DFG-Sonderforschungsbereich "Kulturelle und sprachliche Kontakte in Südwestasien und Nordostafrika". Und er pflegt bis heute engen Kontakt zu anderen Kapazitäten wie Prof. Dr. Walter Bisang, Professor für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft an der JGU.

Kleines Fach, große Gemeinschaft

Als recht kleines Fach mag die Turkologie an den Universitäten oft wenig Personal aufweisen, doch dafür ist sie international hervorragend vernetzt: Johanson kann aus dem Stegreif erzählen, wie es um sein Fach in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in China oder in der modernen Türkei bestellt ist. Seine Doktorandinnen und Doktoranden reisten in die Welt. Zwei Professuren in Uppsala sind mit ihnen besetzt, sie finden sich in Istanbul ebenso wie in Zypern. Einer seiner Schüler folgte dem Ruf auf die aktuelle Professur in Mainz.

In der Turkologie dreht sich vieles um den weltweit geschätzten Mentor und Forscher: Im April 2018 wurde Johanson für seine Verdienste um die Erforschung des Alttürkischen mit der Vilhelm Thomsen Medaille der Internationalen Türkischen Akademie in Kasachstan ausgezeichnet. "Das war eine große Ehre und sehr wichtig für unser Fach", sagt er. Hunderte von Veröffentlichungen tragen seinen Namen, unzählige weitere initiierte er. Allein die von ihm initiierte und betreute Reihe "Turcologica" umfasst mittlerweile rund 120 Monografien.

Johanson kann also unmöglich aufhören. Im Gegenteil: Er schneidet schnell noch ein neues Thema an. "In den türkischen Sprachen gibt es eine faszinierende, meist mündlich überlieferte epische Dichtung", erzählt der 82-Jährige. "Barden lernten Tausende und Abertausende Zeilen auswendig. Sie gingen mit der Zeit, erneuerten und schufen Zusätze. Diese Dichtung droht heute verloren zu gehen. Deswegen versuche ich, junge Akademikerinnen und Akademiker zu inspirieren, sich damit zu beschäftigen. Solch ein kulturelles Erbe muss erhalten bleiben." Auch darum will sich Johanson kümmern.