Forschen in Frieden

15. Juni 2025

Was Prof. Dr. Olena Pchelintseva in Mainz am meisten schätzt, ist die Ruhe am Himmel. "Wenn man ständigen Fliegeralarm erlebt hat, weiß man diese Stille zu schätzen." Die ukrainisch-russische Sprachforscherin ist seit knapp zwei Jahren an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) – mit einem Fellowship der Philipp Schwartz-Initiative, das "wunderbare Kolleginnen und Kollegen" initiiert haben.

Geboren ist Olena Pchelintseva im sibirischen Novosibirsk, aufgewachsen ist sie in der Ukraine. Sie absolvierte ihr sprachwissenschaftliches Studium mit Schwerpunkt Slavistik an der Universität Kiew, bevor sie sich an der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg habilitierte. "Das war eine prägende Zeit, denn dort forschte ich mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen, deren Lehrbücher ich im Studium gelesen hatte." Später habilitierte sie sich auch an der Akademie der Wissenschaften der Ukraine und hat heute den Lehrstuhl für Ukrainische Sprache und Allgemeine Linguistik an der Staatlichen Technologischen Universität Tscherkassy inne.


Prof. Dr. Olena Pchelintseva forscht derzeit mit einem Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative an der JGU. (Foto: Stefan F. Sämmer)
Prof. Dr. Olena Pchelintseva forscht derzeit mit einem Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative an der JGU. (Foto: Stefan F. Sämmer)

Einer der Forschungsschwerpunkt ihrer Arbeit ist die ukrainisch-russische Zweisprachigkeit. "Bereits vor dem Krieg haben wir in der Ukraine einen allmählichen, fast unmerklichen Übergang hin zum Ukrainischen beobachten können, jedenfalls in der Öffentlichkeit", berichtet Olena Pchelintseva. "Viele Menschen in der Region sprechen Russisch, aber Ukrainisch ist die Sprache der Eltern, der Großeltern – und sie kehrt langsam zurück." Der russische Angriffskrieg seit Februar 2022 habe diesen Prozess drastisch beschleunigt.

Auch für Pchelintseva selbst veränderte sich mit dem russischen Angriffskrieg alles. "Die ersten Monate waren geprägt von Angst, Sirenen, leeren Supermarktregalen und Dunkelheit", erinnert sie sich. "Wegen der vielen Stromausfälle führte mein Nachhauseweg oft durch komplett schwarze Straßen. Keine Ampeln, keine Straßenlaternen, völlige Dunkelheit – man konnte die Hand nicht vor Augen sehen." Auch der universitäre Alltag brach ein, viele ausländische Studierende verließen das Land.

Flüchtlingshilfe statt Forschung

"Kurz nach Kriegsbeginn erreichte mich ein Brief meines Mainzer Kollegen Björn Wiemer", berichtet Olena Pchelintseva. Der Professor für Slavische Sprachwissenschaft an der JGU wies sie mit Nachdruck auf die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung hin. Benannt nach einem jüdischen Wissenschaftler, der in den 1930er-Jahren vor den Nationalsozialisten in die Schweiz floh und dort anderen Verfolgten half, ermöglicht die Philipp Schwartz-Initiative gefährdeten Forschenden aus aller Welt, ihre Arbeit mit Unterstützung durch ein 24-monatiges Fellowship an einer deutschen Hochschule oder Forschungseinrichtung fortzusetzen.


Prof. Dr. Björn Wiemer und Prof. Dr. Olena Pchelintseva (Foto: Aleksei Kamenskikh)
Prof. Dr. Björn Wiemer und Prof. Dr. Olena Pchelintseva (Foto: Aleksei Kamenskikh)

"Diese Bewerbung, bei der mich Professor Wiemer tatkräftig unterstützt hat, gab mir in den ersten Monaten des Krieges viel Kraft und Mut", betont Pchelintseva. "Während viele meiner Kolleginnen und Kollegen von Sorgen und Angst überwältigt wurden, half mir die Konzentration auf dieses Projekt."

Hinzu kamen im ersten Kriegsjahr verschiedene Hilfseinsätze, etwa in der Unterbringung, Versorgung und psychischen Betreuung von Geflüchteten aus anderen Landesteilen der Ukraine. Gleichzeitig entwickelte Pchelintseva neue Lehrkonzepte für Ukrainisch als Fremdsprache. Schließlich kam die Zusage der Philipp Schwartz-Initiative und im August 2023 verließ Olena Pchelintseva Tscherkassy in Richtung Mainz.

Lange entbehrte Selbstverständlichkeiten

Ihre neue Wirkungsstätte war nun das Institut für Slavistik, Turkologie und zirkumbaltische Studien auf dem Gutenberg-Campus. Und sie genoss den Frieden. "Vor allem konnte endlich die ständige Angst weichen, dass feindliche Soldaten auftauchen und mir oder geliebten Menschen etwas antun könnten", so Pchelintseva. "Und dann die scheinbar selbstverständlichen Dinge: Dass Strom, Heizung und Internet funktionieren, lernt man unglaublich zu schätzen, wenn man es lange entbehren musste."

Auch ihre Forschung konnte sie unter den neuen, stabilen Lebensbedingungen wieder aufnehmen. Dabei interessiert sie sich als Sprachwissenschaftlerin insbesondere für sogenannte Verbalnomen, also aus Verben gebildete Substantive. "Verbalnomen kombinieren die Form eines Nomens mit der Bedeutung eines Verbs", erklärt Pchelintseva. Beispiele im Deutschen sind Wörter wie "Beginn" von "beginnen" oder "Entscheidung" von "entscheiden".

Diese Verbalnomen vergleicht Pchelintseva innerhalb der slavischen Sprachen: "Obwohl die Sprachen eng miteinander verwandt sind, gibt es starke Unterschiede vom Ost- zum Westslavischen – sowohl was die Anzahl als auch die Verwendung betrifft. "Für das russische Verb 'повторить' – 'wiederholen' etwa gibt es meist nur ein Verbalnomen, nämlich 'повторение' – 'Wiederholung'", so die Linguistin. Im Ukrainischen und Bulgarischen aber gibt es oft zwei Formen, im Polnischen und Tschechischen sogar bis zu vier. "Auch das Vorkommen von Verbalnomen in der Alltagssprache ist in westslavischen Sprachen wie Polnisch, Tschechisch und Slowakisch etwa doppelt so häufig wie in ostslavischen Sprachen, zu denen Russisch, Ukrainisch und Belarussisch zählen. Und ich möchte herausfinden, woran das liegt."

Ukrainisch als Fremdsprache

Neben Einflüssen anderer Sprachen und Kulturen oder Schwierigkeiten in der Aussprache sieht Olena Pchelintseva die Hauptursache der beobachteten Unterschiede in der inneren Logik der Sprachen. Ihre These: "Ob sich ein Verb gut in ein Nomen umwandeln lässt, hängt davon ab, wie stark es eine zeitliche Begrenzung ausdrückt." Denn eine Besonderheit slavischer Sprachen, die es im Deutschen oder Englischen so nicht gibt, liegt in den Verben: Sie zeigen oft an, ob eine Handlung noch andauert oder schon abgeschlossen ist.


Gemeinsam mit Dr. Olha Ihnatyeva, einer früheren Kollegin von der Staatlichen Technologischen Universität Tscherkassy, hat Prof. Dr. Olena Pchelintseva zwei Lehrbücher für Ukrainisch als Fremdsprache im Fachverlag Frank & Timme veröffentlicht. Ein dritter Band ist aktuell in Vorbereitung. (© Frank & himme)
Gemeinsam mit Dr. Olha Ihnatyeva, einer früheren Kollegin von der Staatlichen Technologischen Universität Tscherkassy, hat Prof. Dr. Olena Pchelintseva zwei Lehrbücher für Ukrainisch als Fremdsprache im Fachverlag Frank & Timme veröffentlicht. Ein dritter Band ist aktuell in Vorbereitung. (© Frank & Timme)

"Drückt ein Verb aus, dass eine Handlung zeitlich begrenzt ist, fühlt es sich – im übertragenen Sinne – in der Nomenform unwohl." In Sprachen wie dem Russischen, in denen diese zeitliche Begrenzung besonders stark ausgeprägt ist, falle die Bildung derartiger Nomen daher schwerer. In der polnischen Sprache hingegen, in der mehr Gewicht auf Verlauf oder Wirksamkeit einer Handlung liegt, entstünden sie leichter und vielfältiger.

Den wissenschaftlichen Austausch mit Forschenden in Mainz – neben Björn Wiemer auch mit Kolleginnen und Kollegen vom Historischen Seminar und aus dem Bereich der slavischen Literatur- und Kulturwissenschaft – empfindet Olena Pchelintseva als besonders bereichernd. "Ich spüre viel Wertschätzung für meine Arbeit, was mich enorm motiviert." Neben ihrer intensiven Forschung gibt sie Ukrainisch-Kurse für Lehrende und Studierende und hält Gastvorträge in Deutschland und Europa. Auch die Herausgabe ihrer wissenschaftlichen Zeitschrift "Language: Codification, Competence, Communication" hat sie von Mainz aus fortgesetzt. Zudem war Pchelintseva Ko-Autorin von zwei Lehrbüchern für Ukrainisch als Fremdsprache, ein weiteres ist bereits in Arbeit und erscheint demnächst beim Berliner Fachverlag Frank & Timme.

Kunst aus Tscherkassy

Ein besonderes Highlight: Im April 2025 brachte sie gemeinsam mit Kolleginnen aus Tscherkassy eine Ausstellung nach Deutschland, die auf Initiative ukrainischer Kunststudierender entstanden ist. "Unter dem Titel VOLNANOVA, was wörtlich übersetzt 'frei und neu' bedeutet, appelliert diese kreative Bewegung mit Kunst gegen den Krieg", erläutert Pchelintseva. Unterstützt wird die Initiative von Kunsthochschulen in der ganzen Ukraine, in Lwiw, Poltawa, Charkiw und sogar im besetzten Cherson.

"Es war nicht einfach, die Ausstellung nach Mainz zu bringen", erinnert sich Pchelintseva. "Die Anreise von der Ukraine nach Mainz dauert aufgrund des Krieges derzeit zwei volle Tage. Und meine Kolleginnen Prof. Dr. Inna Yakovets und Tetiana Isaienko haben die vielen sorgsam verpackten Plakate selbst transportiert. Doch das Interesse der Mainzer Studierenden und Lehrenden war überwältigend – und zeigt, dass Kunst eine universelle Sprache ist."


Gemeinsam mit Prof. Dr. Inna Yakovets (r.) und Tetiana Isaienko (l.) hat Prof. Dr. Olena Pchelintseva (Mitte) die Ausstellung VOLNANOVA auf den Gutenberg-Campus gebracht. (Foto: Stefan F. Sämmer)
Gemeinsam mit Prof. Dr. Inna Yakovets (r.) und Tetiana Isaienko (l.) hat Prof. Dr. Olena Pchelintseva (Mitte) die Ausstellung VOLNANOVA auf den Gutenberg-Campus gebracht. (Foto: Stefan F. Sämmer)

In wenigen Wochen läuft Olena Pchelintsevas Stipendium an der JGU aus. Ob sie in die Ukraine zurückkehren wird, ist noch unklar. "Ich werde dort leben und arbeiten, wo ich mit meinem Wissen beitragen kann." Mainz habe sie in den letzten zwei Jahren als offenen Ort voller Unterstützung erlebt. "Ich bin der Universität und den Kolleginnen und Kollegen hier sehr dankbar für all ihre Hilfe", betont Pchelintseva. "Sie haben mir in dieser schweren Zeit die Chance gegeben, das zu tun, was ich liebe: slavische Sprachen zu erforschen."

Text: Anja Burkel

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