24. Oktober 2024
"Immer, wenn etwa zehn Jahre vergangen sind, spüre ich eine gewisse Unruhe." Die Journalistin und Archivexpertin Dagmar Hovestädt hat sich in ihrem Leben immer wieder neue Aufgaben gesucht. Die könnte man mit folgendem Motto überschreiben: für freie Information in einer freien Gesellschaft.
Dagmar Hovestädt, Jahrgang 1965, arbeitete nach ihrem Studium in Mainz, Boulder und Berlin rund 20 Jahre als Journalistin, war ab 2011 Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, ab 2021 Leiterin der Abteilung Vermittlung und Forschung im Bundesarchiv. Sie ist Aufsichtsratsmitglied und Gesellschafterin bei Correctiv, einem gemeinwohlorientierten Medienhaus mit Schwerpunkt auf investigativem Journalismus. Und seit einigen Monaten ist sie wieder freiberuflich tätig. Ihr Ziel: Archive, die sich der Sammlung und Aufarbeitung von schwerem staatlichen Unrechtsgeschehen widmen, zu einem weltweiten Netzwerk zu verknüpfen.
Als sie 1984 aus einem kleinen Ort im Münsterland nach Mainz zog, um hier zwei Jahre Journalismus, Politikwissenschaften und Spanisch/Romanische Philologie zu studieren, hatte sie noch keine Vorstellung davon, wie abwechslungsreich ihr Leben verlaufen würde. Der erste Schritt in die Selbstständigkeit, das erste eigene Zimmer, die erste Liebe, die erste Demonstration, neue Kontakte und die Einführung ins wissenschaftliche und journalistische Arbeiten – all das begeisterte sie. "Journalismus ist bis heute mein Traumberuf." Aber es gab gerade am Anfang auch schwierige Phasen. "Plötzlich war mir klar, ich kann nicht mehr zurück. Alles Vertraute war weg, die Zukunft ungewiss." Umso dankbarer war sie, dass es Menschen gab, die ihr und ihren Fähigkeiten vertrauten. Sie bekam einen Job als studentische Hilfskraft, bei dem sie sich wissenschaftlich mit der politischen Ausrichtung großer Zeitungen befasste, dann ein Fulbright-Stipendium. Ihr Fazit im Rückblick: "Mainz war ein gutes Sprungbrett für alles, was danach kam."
Amerika – das Sehnsuchtsland
Ein "Sprung", der sie bis heute prägt, war der einjährige Aufenthalt an der University of Colorado Boulder im Rahmen des Stipendiums nach dem Grundstudium. "Das Jahr hat mich in vielerlei Hinsicht weitergebracht, hat mich neugierig und offen werden lassen – seitdem wollte ich gern wieder in die USA." Doch zunächst studierte sie in Berlin bis zum Masterabschluss 1991 und arbeitete nach einem Volontariat beim Sender Freies Berlin als Reporterin und Redakteurin mit dem Schwerpunkt Investigativrecherche bei der Sendung "Kontraste".
Ihrer Sehnsucht nach den USA gab sie 1999 nach. "Manchmal muss man einfach auf seinen Bauch hören." Sie kündigte ihren Vertrag mit dem öffentlich-rechtlichen Sender, ließ alles Vertraute zurück, zog nach Los Angeles – ohne Aussicht auf einen Job. Ein Sprung ins Ungewisse. Sie lebte vom Ersparten – "ich sagte mir, einen Winter schaffst du" – und reaktivierte Kontakte aus ihrer Zeit in Boulder und Berlin. "Wenn du eine feste Anstellung verlässt und plötzlich selbstständig bist, aktivierst du ja dein gesamtes Netzwerk. Du erzählst, wo du gerade bist, was du kannst. Das ist nicht immer einfach. Das muss man wirklich wollen." Durch eine Bekannte bekam sie ein Zimmer vermittelt, Adresse: Beverly Hills. Der Gegensatz zwischen dem Zimmerchen und der noblen Adresse amüsiert sie noch heute. Aber die ersten zwei Jahre seien schwierig gewesen. Weil die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Korrespondenten in USA haben, konnte sie ihre Themen vor allem bei den dritten Programmen anbieten.
Dann änderte sich die Situation. "Es ist wirklich schrecklich, aber nach dem Geschehen am 11. September 2001 stieg der Bedarf an Beiträgen enorm – und ich konnte zusätzlich zu eigenen Beiträgen als Producerin bei der ARD einsteigen." Außerdem betreute sie Dokumentarfilmproduktionen. "Meine persönlichen Highlights waren die Reise zu einer Küstenschutzstation auf den Aleuten, eine vulkanische Inselkette vor Alaska, und die Begleitung des 1.000 Meilen-Schlittenhunderennens Yukon Quest durch Kanada und Alaska. Superspannend."
Kalifornien wurde ihre zweite Heimat – hier lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen. Aber halten konnte das Land sie nicht. "Über Jahre hatte ich über andere Menschen und Ereignisse berichtet, nun wollte ich gern etwas Dauerhaftes, mich in etwas einarbeiten und dabei bleiben, Verantwortung übernehmen." Der Impuls kam wiederum aus ihrem Netzwerk: Roland Jahn, ehemaliger Kollege aus dem "Kontraste"-Team, wurde 2011 als Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Stasi-Behörde gewählt und fragte sie, ob sie nicht die Pressearbeit übernehmen wolle. Sie sagte zu, zog nach Berlin. Ihr Mann folgte kurze Zeit später.
Aufarbeitung für Stasi-Behörde und Bundesarchiv
"Die Idee der Aufarbeitung hat mich fasziniert – auch wenn ich es mit belastenden Dokumenten zu tun hatte." Wie funktionierte der Überwachungsapparat? Welche Methoden verwendete die Stasi? Wie rechtfertigten die Stasi-Mitarbeitenden ihr Vorgehen? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigte sich Dagmar Hovestädt intensiv, aber auch mit Fragen der Aufarbeitung: Wie geht eine Gesellschaft im Nachhinein mit Verantwortlichen um – und mit den Opfern? Wie intensiv schaut man hin? Und wer schaut weg? Und das betraf nicht nur die ehemalige DDR: Sie lernte auch die Arbeit ausländischer Archive kennen. Ihr Wissen teilte sie in Podcasts, Buchbeiträgen und Vorträgen mit der Öffentlichkeit. "Archive legen eine authentische Spur in die Vergangenheit. Zu wissen, wie die Dinge genau vor uns waren, hilft uns, unseren Standort heute besser zu verstehen und die Fehler der Vergangenheit zu erkennen." Wichtig dabei für sie: "Archive, die das dokumentieren und bewahren, was noch nicht zur Verantwortung gezogen wurde."
Als Roland Jahn 2021 in den Ruhestand ging und die Stasi-Unterlagen dem Bundesarchiv zugeordnet wurden, übernahm Dagmar Hovestädt dort die Leitung der Abteilung Vermittlung und Forschung. Doch nach einigen Jahren verspürte sie erneut den Drang nach Veränderung – und kündigte.
Gründung eines Netzwerks zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen
Seit Anfang 2024 ist sie wieder freiberuflich tätig. Ihr Ziel: ein begonnenes Netzwerk weltweiter Archive weiter zu knüpfen, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und so einen Aufarbeitungsprozess in Gang bringen. "Es geschieht zwar unterschiedliches Unrecht in den verschiedenen Ländern, aber die Wege der Aufarbeitung sind ähnlich – ob es sich nun um Südafrika, Israel oder Kroatien handelt. Ein Netzwerk hilft, diese Arbeit zu stärken." Mitstreitende hat sie schon. Bei einem Workshop in Oxford lernte sie zwei Akademikerinnen kennen, die das gleiche Ziel verfolgen. Die Schweizerische Friedensstiftung swisspeace hatte mit einer kleinen Anschubfinanzierung den ersten Netzwerkstart in 2018 gefördert und hat die Koordination inne. Seitdem war Dagmar Hovestädt unter anderem in Irland, um der Universität von Galway zu helfen, ein nationales Archiv und ein Museum aufzubauen, das den Missbrauch von jungen Frauen und Kindern in den staatlichen katholischen Einrichtungen aufarbeitet.
Das Geld für ihren Lebensunterhalt verdient sie zurzeit mit Projekten wie einer Medienrecherche zu Nachrichten. Sie evaluiert Webseiten von Zeitungen und Verlagshäusern danach, ob von Journalisten erstellte und faktenbasierte Nachrichten dort stehen. Dafür hat sie Hunderte von Online-Auftritten durchgeschaut. "Das war einsichtsvoll. Ich habe viel dabei gelernt." Die sozialen Medien und die Online-Plattformen hätten die journalistische Arbeit verändert, Nachrichten seien eher emotionalisierend, weniger ausführlich, oft weniger gut recherchiert.
Nebenbei betreibt sie den Netzwerkaufbau der Menschenrechtsarchive. "Ich versuche, möglichst vielen Menschen über das Netzwerk zu erzählen, welche Ideen ich dazu habe. Ich recherchiere viel, sammle passende Webseiten und Archive und suche nach nationalen oder internationalen Organisationen, die so ein Netzwerk finanzieren würde." Sie hat weiter Kontakt zu swisspeace, mit der Uni in Irland, mit einem Dokumentarfilmer, der die IS-Verbrechen in Syrien dokumentiert hat, und mit einer Frau aus dem Libanon, die Dokumente dortiger Menschenrechtsverletzungen archiviert und vielen mehr.
Rund 40.000 bis 50.000 Euro, so schätzt sie, braucht sie zunächst, um das Netzwerk ans Laufen zu bringen. Dazu kämen als nächstes Kosten für Mitgliedertreffen, für Digitalisierung und Sicherung von Dokumenten, für ihr Honorar. Dagmar Hovestädt ist optimistisch, dass sie das Netzwerk aktivieren kann. So oder so wird sie sich weiter einsetzen: für freie Information in einer freien Gesellschaft.
Text: Irmela Heß