26. November 2016
Im neuen Translation & Cognition Center (TRA&CO) forschen Prof. Dr. Silvia Hansen-Schirra und ihr Team vom Fachbereich 06: Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in viele Richtungen. Ein Projekt beschäftigt sich mit der Verständlichkeit von Behördentexten und hat die Webseite des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie auf den Prüfstand gestellt.
Es begann 2015 auf der CeBIT in Hannover. Dort stellte die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Silvia Hansen-Schirra die aktuellen Projekte ihres gerade entstehenden Eyetracking-Labors vor. "Ministerpräsidentin Malu Dreyer kam an unseren Stand", erinnert sich Silke Gutermuth. Die Landesregierung plante, die eigenen Webseiten zu überarbeiten. Einfacher sollten die Texte werden, verständlicher und bürgernah. Gerade im Hinblick auf das geplante Transparenzgesetz schien das wünschenswert. Aber wie sollte man so etwas angehen? Wie lässt sich ermitteln, ob Texte wirklich leicht verständlich sind? Welche Klientel versteht was? Wo erntet Beamten- oder Politikerdeutsch nur noch Kopfschütteln?
Diese Fragen interessieren auch Hansen-Schirra und ihr Team am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK) am JGU-Standort Germersheim. Mit ihren Eyetracking-Geräten haben sie eine hervorragende Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. So entstand ein gemeinsames Projekt mit dem Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie. Unter dem Titel "LES is more – Leichte und Einfache Sprache in der politischen Medienpräsenz" machten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Arbeit.
Leichte Sprache, Einfache Sprache
"Die sogenannte Leichte Sprache ist vor ein paar Jahren aus der Praxis heraus entstanden", erzählt Hansen-Schirra. Ursprünglich ging es vor allem darum, Menschen mit kognitiven Einschränkungen zu helfen. "Das Problem: Es wurde nie empirisch getestet, ob Leichte Sprache wirklich funktioniert."
"LES is more" sollte Abhilfe schaffen. Gutermuth und Hansen-Schirra testeten drei Bevölkerungsgruppen: Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Menschen mit Migrationshintergrund sowie Seniorinnen und Senioren jenseits der 65. Alle bekamen Textausschnitte in drei Schwierigkeitsgraden vorgelegt. Zum einen waren da die Originaltexte der Landesregierung, die online zur Bürgerbeteiligung am Transparenzgesetz aufgerufen hatte. Diese Texte übersetzte Gutermuth in Einfache und in Leichte Sprache, wobei Einfache Sprache mit bürgernaher Sprache gleichzusetzen ist und Leichte Sprache eine extreme sprachliche Vereinfachung darstellt. Die Probanden bekamen jeweils vier kurze Passagen aus jeder Kategorie vorgelegt.
Gutermuth präsentiert ein Blatt mit Beispielen aus dem Test. Die drei Schwierigkeitsgrade sind hier sauber in Spalten eingeteilt. Für die Tests allerdings mischte sie die Texte. Niemand sollte von vornherein erkennen, um welche Schwierigkeitsgrade es sich handelte.
Folgende Passage stand auf der Website der Landesregierung: "Diese Online-Beteiligung war eine Form der elektronischen Konsultation, durch die Hinweise und Empfehlungen für den Entwurf des Transparenzgesetzes in Rheinland-Pfalz eingeholt wurden." Gutermuth übertrug den Satz in Einfache Sprache: "Die Online-Beteiligung ist eine Befragung im Internet, die Meinungen und Wünsche zum neuen Transparenzgesetz sammelt." Und in Leichte Sprache: "Online-Beteiligung bedeutet: Jeder kann mitmachen. Hier bedeutet Online-Beteiligung: Die Landesregierung hat die Menschen nach Meinung und Wünschen zum Transparenzgesetz gefragt."
Neues Eyetracking-Labor
"Für die Leichte Sprache gibt es klare Regeln", erläutert Hansen-Schirra. "Die Sätze müssen kurz sein und dürfen jeweils nur eine Aussage enthalten." Die Einfache Sprache geht einen Mittelweg: Alles ist schon entschieden schlichter formuliert, aber eben nicht so stark heruntergebrochen wie im Fall der Leichten Sprache.
Der Satzbau der Leichten Sprache ist extrem einfach, Fremdwörter sind tabu. Komposita werden sparsam verwendet und wenn sie mal vorkommen, werden sie durch einen sogenannten Mediopunkt mit deutlichen Segmentierungshilfen versehen. Genitive werden genau wie Passivkonstruktionen völlig aus den Texten verbannt. Letzteres bereitet immer mal Probleme: "Das Passiv findet sich häufig in Behördentexten", sagt Gutermuth. "Es werden keine Agenten, keine Täter genannt. Beim Übersetzen stehen wir dann vor der Frage: Wer entscheidet da jetzt etwas, wer beschließt es?" Allgemein wird in Leichter Sprache viel erläutert und wenig vorausgesetzt. "Das macht die Passagen oft länger als das Original."
Hansen-Schirra und Gutermuth luden die Probandinnen und Probanden in ihr Translation & Cognition Center, kurz TRA&CO, auf dem Campus Germersheim ein. Das Labor wurde erst in diesem Jahr mit finanzieller Unterstützung des Gutenberg Forschungskollegs (GFK) der JGU eingerichtet. Vier Eyetracking-Geräte und ein EEG stehen hier für die Forschung bereit.
Mit den Eyetracking-Geräten können die Wissenschaftlerinnen genau ermitteln, wer welchen Text wie liest. Die Geräte machen auf den ersten Blick nicht viel her: Die Probanden sitzen vor einem PC-Schirm und schauen, was ihnen präsentiert wird. Infrarotrezeptoren in einer schmalen Leiste unterhalb des Bildschirms registrieren die Pupillenbewegung der Probanden.
Datenfülle zum Leseakt
"Der Eyetracker muss zuerst für jede Person neu kalibriert werden", erzählt Gutermuth. Ein Punkt wandert über den Bildschirm. Es gilt, ihm zu folgen. Damit ist das Gerät eingestellt. Nun erscheint ein Text auf dem Schirm. "Bitte lesen Sie ihn durch." Das ist in Minutenfrist erledigt. Abschließend bietet Gutermuth die Probanden, den Inhalt wiederzugeben, um die Verständlichkeit der Texte zu testen.
Doch das ist nur der offensichtliche Teil des Tests. Gutermuth dreht an den Einstellungen des Eyetrackers und schlagartig legen sich Kreise über den Text. Sie zeigen, wo die Augen hinwanderten. Wo sie nur kurz verweilten, bleiben die Kreise klein, wo sie hängen blieben, blähen sie sich auf. Hinzu kommt eine zeitliche Einordnung: Im Kreis für den ersten Blick erscheint eine eins, die weiteren sind entsprechend durchnummeriert. Damit erkennt Gutermuth den Verlauf des Lesens: Wo hat der Proband wann hingeschaut? Ist sein Blick vielleicht zurückgesprungen zu einer schwierigen Passage?
Selbst der Laie, der sich diese Grafiken oder sogenannten Gazeplots zum ersten Mal anschaut, begreift schnell, welch eine Informationsfülle sich hier auftut, mit welcher Exaktheit das Gerät den Leseakt misst. "Wir nutzen die Eyetracker mittlerweile für sehr viele Projekte", erzählt Hansen-Schirra. Auch die Studierenden konzipieren gern Arbeiten, in denen sie die empirischen Messungen der Eyetracker nutzen.
TRA&CO ist begehrt am Fachbereich. So forscht Hansen-Schirra gerade in einem Projekt, ob sich die herkömmlichen Untertitel für Film und Fernsehen besser gestalten lassen. Sprechblasen ähnlich wie in Comics wären möglich und scheinen sich zu bewähren.
Ist Einfache Sprache langweilig?
Doch zurück zu LES: Die Daten sind erhoben. Jeweils 30 Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Menschen mit Migrationshintergrund sowie Seniorinnen und Senioren haben das Experiment durchlaufen. In den nächsten Monaten werden die Ergebnisse vorliegen. "Die statistische Auswertung ist kompliziert", sagt Gutermuth. "Wir werden auch keine Vergleiche zwischen den Gruppen anstellen können", räumt sie ein. "Dafür sind sie in sich einfach zu heterogen."
Immerhin aber können Hansen-Schirra und Gutermuth erste Eindrücke schildern. "Leichte Sprache wird oft als sehr redundant und langweilig empfunden", berichtet die Professorin. Eine Ausnahme bildeten die Menschen mit kognitiven Einschränkungen: Sie bevorzugen oft Texte in dieser Version. Für sie ist es eine Chance, mehr an der Gesellschaft teilzuhaben. Meist aber scheint die Einfache Sprache, also der Mittelweg, die beste Lösung zu sein.
"Mit den Originaltexten von der Webseite haben jedenfalls viele ihre Probleme", so Gutermuth. Besonders bei den Senioren stellte sie einen gewissen Unmut angesichts bürokratischer Formulierkunst fest. "Ein Herr brachte sogar seine Steuererklärung mit und fragte empört: Verstehen Sie das?"
Nach alledem lässt sich ahnen, was dem Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie bevorsteht: Bestnoten wird es nicht bekommen für seine ursprünglichen Texte. Aber durch die Kooperation mit dem Translation & Cognition Center der JGU und die empirische Optimierung der Texte kann auch das Ministerium bald alle Bürger mit seinen Informationen erreichen.