18. Oktober 2021
Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gilt als eher brave Hochschule. Selbst die turbulenten 68er verliefen hier vergleichsweise ruhig. Doch in den 75 Jahren seit ihrer Wiedereröffnung ist auch an der JGU einiges geschehen: Stefanie Martin und Dr. Martin Göllnitz präsentieren in der jüngst erschienenen Jubiläumsfestschrift ihre Chroniken zu Skandalen und Gewalt. Damit öffnen sie ein Kapitel, das herkömmlichen Universitätsgeschichten fehlt.
Am 24. April 1982 stürmte eine rund 100 Mann starke Truppe das Internationale Studierendenwohnheim Inter I auf dem Mainzer Campus. Anhänger des Ruhollah Chomeini schlugen und stachen auf ihre iranischen Landsleute ein, auf Studierende, die dem fundamentalistischen Regime in ihrer Heimat kritisch gegenüberstanden. In den verwüsteten Räumlichkeiten lieferten sich die Gewalttäter Gefechte mit der bald eintreffenden Polizei, die Verstärkung aus Wiesbaden herbeirufen musste, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Beamten verhafteten 86 Personen, 28 Studierende wurden verletzt.
Der Vorfall führte zu schweren diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und Iran. Während die Ermittlungen gegen die Festgenommenen begannen, kam es im Iran zu antideutschen Demonstrationen, wirtschaftliche Kooperationen mit der Bundesrepublik wurden aufgekündigt und das Goethe-Institut in Teheran wurde unter staatliche Aufsicht gestellt. Die Lage beruhigte sich erst wieder, als der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel eine iranische Delegation zu Gesprächen einlud. Beide Seiten rangen um einen Kompromiss: 43 Inhaftierte sollten weiter in Deutschland studieren dürfen, wenn sie sich vor Gericht verantworteten. Der Iran erklärte sich bereit, alle iranischen Studierenden in der Bundesrepublik zu unterstützen und die wirtschaftlichen Beziehungen wiederaufzunehmen.
Mord und Korruption im Elfenbeinturm
"Das Bild von der Universität als Ort der friedlichen Gelehrsamkeit, an demWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Elfenbeinturm residieren und Studierende ihnen geruhsam zuhören, ist brüchig", stellt Dr. Martin Göllnitz fest. "Universität ist auch ein Ort der Gewalt. Aus dem 18. und 19. Jahrhundert kennen wir Berichte von Fechtkämpfen und von Pistolenduellen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden unliebsame Professoren und Studierende niedergeknüppelt. Gewalt gab es schon immer an Universitäten, nur prägt sie sich jeweils unterschiedlich aus."
Gemeinsam mit Stefanie Martin spürte Göllnitz Skandalen und Fällen von Gewalt an der JGU nach. Sie berichten von dem bis heute ungeklärten Doppelmord an zwei Universitätsinspektoren im Jahr 1950, einem Radium-Diebstahl 1951, der für reißerische Schlagzeilen sorgte, und einem Sprengstoffanschlag am Institut für Publizistik 1986. Ihre Funde sind in der umfangreichen Festschrift "75 Jahre Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Universität in der demokratischen Gesellschaft" nachzulesen. Hier kommen Aspekte zur Sprache, die sich so kaum in den gängigen Werken zur Universitätsgeschichte finden.
Martin arbeitet in der Universitätsbibliothek der JGU. Sie hat sich bereits in einer ganzen Reihe von Artikeln mit der Historie der Mainzer Universität beschäftigt und gehörte auch zum Redaktionsteam der jüngst erschienenen Jubiläumsschrift. Göllnitz war bis 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der JGU tätig, bevor er ans Institut für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg wechselte. Sowohl Universitäts- und Wissenschafts- als auch Polizei-, Gewalt- und Terrorismusgeschichte gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten. Die beiden planten zuerst einen gemeinsamen Beitrag, doch nach Göllnitz' Weggang war es praktikabler, die Arbeit aufzuteilen. Er konzentrierte sich auf das Thema Gewalt, Martin schrieb "Eine Geschichte der JGU in Skandalen".
Skandale spiegeln Wertvorstellungen
"Zu meinen Aufgaben gehörte es, die Zeitungsausschnitt-Sammlung unseres Archivs neu zu strukturieren", erzählt Martin. Damit saß sie in Sachen Skandale an einer ergiebigen Quelle. "In unserer Datenbank fand ich allerdings unter den einschlägigen Suchbegriffen zunächst nur wenige Hinweise." Immerhin weiß sie von einem Fall zu berichten, der auch überregional für viel Wirbel sorgte: 1981 flog auf, dass ein Mitarbeiter des Studentensekretariats illegal Zulassungen für Numerus-clausus-Studiengänge vergeben hatte. Als das öffentlich bekannt wurde, stürzten sich die Zeitungen darauf. Martin registrierte allein zu diesem Thema 54 Artikel. Im "Spiegel"-Beitrag "Bakschisch gegen Numerus Clausus" war von bis zu 700 Fällen und einer sechsstelligen Bestechungssumme die Rede. Bis dahin zählte die JGU nach den Worten des Journalisten Einar Darré zu "den ausgesprochen 'braven' Hochschulen in der Bundesrepublik". Nun schaffte sie es bis in die Tagesschau. Der Ruf war angekratzt, auch wenn man sich um prompte Aufklärung bemühte.
"Skandale spiegeln, ob oder wie sich Normen und Wertvorstellungen verändern", meint Martin. Zu diesem Thema sei bisher wenig geforscht worden, obwohl sich dies durchaus lohnen würde. "Der Radium-Diebstahl von 1951 zum Beispiel schlug gar nicht so hohe Wellen, nur 15 Jahre später aber gab es einen Sturm der Entrüstung, als Pläne bekannt wurden, im Raum Koblenz Atommüll zu lagern." Zudem hat sie festgestellt, dass der Skandal-Begriff ab den 1980ern in der Mainzer Studierendenzeitung "Unipress" inflationär gebraucht wurde, wenn es um Streitigkeiten zwischen den politischen Parteien ging. "Je besser es einer Gesellschaft geht, desto häufiger taucht er auf."
Gewalt als Kommunikationsakt
In den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren verzeichneten viele Universitäten gewalttätige Konflikte zwischen Burschenschaften und linken Studierendengruppen. "In Mainz findet sich nichts dergleichen", so Göllnitz. "In Marburg zum Beispiel ist einerseits die linke politische Ausrichtung deutlich spürbar, andererseits gibt es in der Oberstadt viele studentische Verbindungen. Als ich nach Mainz kam, fiel mir nur eine milde konservative Grundstimmung auf. Gewalt zwischen linken und rechten Gruppen ist aus vielen alten Universitäten bekannt, etwa aus Tübingen und Marburg. Wahrscheinlich konnten in Mainz die entsprechenden Traditionen nicht entstehen, weil die Universität nach langer Pause erst vor 75 Jahren wiedergegründet wurde."
Die Universität ist kein gewaltfreier Raum, das betont Göllnitz mehrfach. "Ideologien, Weltbilder – all das wird auch in die Universität hineingetragen. Gewalt ist ein Kommunikationsakt und gerade Studierende befinden sich oft in einer Situation, in der ihnen noch keiner zuhört. Um Gehör zu finden, bedarf es eines rigoroseren Verhaltens, das in Gewalt münden kann."
Dennoch schätzt auch der Historiker die JGU insgesamt als "eher brav" ein. "Während nach der Jahrtausendwende an einigen Universitäten Banküberfälle in RAF-Manier simuliert wurden, entführte man in Mainz gerade mal eine Schreibmaschine." Anlässlich des bundesweiten Bildungsstreiks 2009 hieß es im satirisch gefärbten Bekennerschreiben: "Zur Freigabe dieser wertvollen Schreibmaschine fordern wir alles! Und zwar sofort!" Werde dieser Forderung nicht nachgekommen, "können wir nicht länger für das Wohlergehen Ihrer Schreibmaschine garantieren".