Gleichberechtigung als Neverending Story

30. September 2020

Sie war die erste Landesfrauenbeauftragte in Rheinland-Pfalz und die erste CDU-Politikerin, die sich als Beauftragte der Bundesregierung dem Themenkomplex Migration, Flüchtlinge und Integration widmete. Sie stellte Weichen als Staatsministerin der Bundeskanzlerin und im Auswärtigen Amt, als Bundesvorsitzende der Frauenunion oder heute als Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission. 1968 kam Maria Böhmer an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Aus ihrer Studienzeit nahm sie wichtige Impulse mit für ihre späteren Ämter und Aufgaben.

Prof. Dr. Maria Böhmer steht auf dem Turm der alten Mainzer Flakkaserne. Allzu weit ragt er zwar nicht in den Himmel, aber von hier eröffnet sich doch ein weiter Ausblick auf den Gutenberg-Campus, seine Umgebung und die Region. Böhmer deutet auf ein Gebäude in der unmittelbaren Nachbarschaft: "Dort im Newman-Haus wohnte ich als Studentin", erinnert sie sich. "Auf meinem Flur traf ich eine indische Medizinstudentin, mein Tennispartner kam aus dem Libanon, und ein aus Zagreb stammender Student kochte uns Gulasch. Wir lebten ganz selbstverständlich miteinander. Diese unbeschwerte Internationalität ist eine der Prägungen, die ich aus meiner Studienzeit mitnahm."

1946 war die alte Flakkaserne zur Keimzelle der wiedereröffneten JGU geworden. 18 Jahre später schrieb sich die gebürtige Mainzerin Maria Böhmer hier ein: Sie hatte das Abi frisch in der Tasche, nun entschied sie sich für ein Lehramtsstudium. Mathematik, Physik, Politikwissenschaft und Pädagogik sollten es sein. Besonders die ersten beiden Fächer wählte sie sehr bewusst. "Ich komme von einer Mädchenschule. Es war mein großes Glück, dass ich hervorragende Lehrerinnen in Mathematik, Physik, aber auch in Biologie hatte. Sie bestärkten mich in meinen Interessen."

Zu wenig Frauen in den Naturwissenschaften

Die Naturwissenschaften wurden damals mehr noch als heute von Männern dominiert. "Wir saßen mit gerade mal zwei Studentinnen in der Atomphysik, dafür waren wir in der Pädagogik-Vorlesung 80 bis 90 Prozent Frauen. Als ich die JGU 1982 verließ, betrug der Frauenanteil in der Professorenschaft gerade mal zehn Prozent." Sie fragt nach: "Wie sieht es aktuell aus?" Im bundesweiten Vergleich liegt die JGU tatsächlich recht gut, rund 25 Prozent sind es mittlerweile. Als sie das erfährt, meint sie: "Auch das reicht mir nicht. Dieses Thema bewegt mich so sehr, dass ich über all die Zeit drangeblieben bin."

Durch ein enges Treppenhaus geht es den Turm hinab zu einem ausführlicheren Gespräch. Böhmer schaut sich interessiert die Räumlichkeiten im Forum universitatis an. Sie erkundigt sich nach Details: nach der aktuellen Funktion der Alten Mensa etwa oder was aus dem früheren Studierendenwohnheim Inter I werden soll. Ihre Alma Mater liegt ihr offensichtlich am Herzen.

"In den Wirtschaftswissenschaften lernte ich auch meinen Mann kennen", erzählt sie. "Wir promovierten zeitgleich." Als die beiden kürzlich den Campus besuchten, kamen sie am Naturwissenschaftlichen Institutsgebäude, der sogenannten NatFak, vorbei, das unter anderem das Zentrum für Datenverarbeitung der JGU beherbergt. Anfang der 1970er-Jahre war Böhmer dort häufiger zu Gast. "Ich schrieb eine empirische Dissertation zur Wahlpflichtfachentscheidung in der Realschule und wertete meine Daten im Rechenzentrum aus. Das war damals noch etwas völlig Neues, ganz besonders natürlich für eine Studentin aus der Pädagogik."

Von 1972 bis 1979 war Böhmer als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pädagogischen Institut der JGU tätig. Dort traf sie die israelische Pädagogin Miriam Ben-Peretz von der Universität Haifa, die häufiger in Mainz zu Gast war. Ihre Familie stammte aus Breslau, 1935 hatte sie gerade noch rechtzeitig vor den Nationalsozialisten nach Palästina flüchten können. Bis zum Tod von Ben-Peretz Anfang dieses Jahres verband die beiden Frauen eine enge Freundschaft.

Universitätspartnerschaft mit Haifa

"Wir begründeten eine Partnerschaft zwischen unseren Universitäten, noch bevor die Städtepartnerschaft zwischen Mainz und Haifa besiegelt wurde", erinnert sich Böhmer. "Miriam war der Motor, sie kam auf mich zu. Sie saß damals im Stadtrat von Haifa." In der Folge entwickelte sich ein reger Austausch zwischen den Universitäten, aber auch zwischen den beiden Freundinnen. "Wir gaben uns immer wechselseitig Impulse." Vor wenigen Jahren noch schrieb Ben-Peretz an Böhmer: "Ich sehe unsere Freundschaft als Sieg der Liebe über den Hass und als bedeutenden Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, historische Tragödien zu überwinden und neue Welten der Zusammenarbeit zu schaffen."

Beide habilitierten sich in Pädagogik: Ben-Peretz an der Universität Haifa, wo sie 1990 eine Professur für Pädagogik übernahm, Böhmer 1982 an der JGU. Im selben Jahr noch ließ sich die Mainzerin allerdings beurlauben und übernahm das Amt der ersten Landesfrauenbeauftragten in Rheinland-Pfalz.

"Die Gleichberechtigung ist eine Neverending Story", meint Böhmer. Sie schrieb einige Kapitel dazu. Als Frauenbeauftragte etwa initiierte sie erste Computerkurse ausschließlich für Mädchen. "Wenn wir mehr Frauen für die Naturwissenschaften gewinnen wollen, müssen wir in der Schule anfangen", sagt sie. "Der Blick der Frauen auf die Wissenschaft ist noch mal ein anderer, er könnte ganz neue Türen öffnen. Wir müssen die verschiedenen Sichtweisen von Männern und Frauen zusammenbringen, das wäre ein starkes Plus für jeden Forschungsbereich."

1985 trat Böhmer in die CDU ein, seit 1994 gehört sie dem Bundesvorstand der Partei an. Sie war unter anderem Mitglied im Präsidium und Vorsitzende der Frauenunion, wo sie mittlerweile zur Ehrenvorsitzenden gewählt wurde. Von 1990 bis 2017 war sie Mitglied des Deutschen Bundestags. 2005 übernahm sie das Amt der Staatsministerin bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und wurde zur Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt. 2O13 kam sie als Staatsministerin ins Auswärtige Amt. Vor zwei Jahren dann übernahm sie die Präsidentschaft der Deutschen UNESCO-Kommission.

Im Laufe ihrer Karriere blieb das Thema Gleichberechtigung immer virulent. "Ich habe mich zum Beispiel stark in Rentenfragen eingearbeitet und gesehen, dass Frauen erheblich weniger Rente bekommen. Deshalb setzte ich mich dafür ein, dass die Lebensleistungen von Männern und Frauen gleich berücksichtigt und die Kindererziehungszeiten bei der Rente eingerechnet werden. Doch bei der älteren Generation wurde nur ein Jahr, bei der jüngeren aber wurden drei Jahre Erziehungszeit angerechnet. Auch das wollte ich ändern. Es war schwer, aber ich blieb hartnäckig und konnte viele Mitstreiterinnen gewinnen. Wir haben die Rente verändert. Das war ein Thema, das ohne uns Frauen und unsere Erfahrungen nicht vorangebracht worden wäre."

Nicht übereinander, sondern miteinander reden

Als sie zur Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt wurde, fragte sich Böhmer: "Was bedeutet es, dass ich als erste CDU-Politikerin diesen Bereich übernehme? Was kann ich mitbringen? Ich entdeckte, dass ich meine Erfahrungen aus der Universität in dieses Amt hineintragen konnte. Mit dem Dialogprinzip entwickelte ich ein Credo, das später zu einer Art geflügeltem Wort wurde: Wir reden nicht übereinander, wir reden miteinander. Denn anfangs habe ich oft erlebt, dass Migrantinnen und Migranten sich nicht genügend in die Ausgestaltung der Integrationspolitik einbringen konnten." Auf Böhmers Initiative gehen unter anderem die Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt, der Nationale Aktionsplan Integration und das Gesetz zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen zurück.

Und immer wieder koppelt sie die Themen Gleichberechtigung, Frauen und Migration mit der Frage nach Bildungschancen. Aktuell schaut sie als Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission besonders auf die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung, mit der die Vereinten Nationen 17 große Ziel formulierten. Ziel 4 formuliert Forderungen zu "Hochwertiger Bildung". "Bis dahin zielte Bildungsvermittlung für die UN vor allem auf Lehrende, auf Schulen und Grundbildung. Doch das reicht nicht", meint Böhmer. "Ich mache mich schon lange für lebenslanges Lernen stark und für Chancengerechtigkeit inklusive der Chance, Zugang zu hochwertiger Bildung zu bekommen." Zugleich sei sie sich bewusst, dass gerade viele Mädchen und Frauen überhaupt keinen Zugang zu Bildung bekommen.

Wieder stößt Böhmer auf diese Neverending Story, die für sie bereits in der Schul- und Studienzeit begann. "Wir sind vorangekommen", stellt sie fest. "Aber es ergeben sich immer neue Probleme und Ansatzpunkte. Gerade meine Erfahrungen aus dem universitären Bereich helfen mir, Veränderungen zu erreichen." Sie schaut hinaus zum Fenster in den Hof des Forum universitatis und betont zum Abschluss noch einmal: "Ich habe vieles mitgenommen aus meiner Zeit an der Mainzer Universität. Sie hat mich in vielem, was mir bis heute am Herzen liegt, maßgeblich geprägt."