10. Juli 2015
Die Frage, welche Nachrichten im Internet gelesen und welche ignoriert werden, beschäftigt die Kommunikationswissenschaft schon länger. Aber wie steht es um die Diskussionen, die online zu solchen Meldungen geführt werden? Mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt "Vom Nachrichtenwert zum Diskussionswert" suchen Marc Ziegele und Prof. Dr. Oliver Quiring vom Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) nach Antworten.
Als die Grünen 2013 den Veggieday propagierten, kochte die Diskussion im Netz tüchtig hoch. "Der Vorschlag, einen Tag pro Woche in Kantinen und Mensen nur Vegetarisches anzubieten, hat unglaublich viele empörte Kommentare hervorgerufen", erzählt Marc Ziegele, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der JGU. "Die Leute sahen ihre eigene Lebenswelt betroffen. Der Veggieday wurde als Bedrohung der Freiheit interpretiert. Der Tenor war: Niemand darf mir vorschreiben, was ich zu essen habe."
Die Landtagswahl in Hessen und das knappe Abschneiden der FDP – sie erreichte gerade mal fünf Prozent – ließ die Leute hingegen kalt. "Das hat keinen interessiert auf Bundesebene." In Befragungen erfuhr Ziegele: "Viele meinten, das betrifft sie nicht, oder sie kennen sich einfach nicht genug aus, um darüber zu diskutieren."
Untersuchungen und Theorien darüber, warum Internetnutzerinnen und -nutzer gewisse Meldungen lesen und andere ignorieren, gibt es bereits. "Wir wissen ganz gut, wie die Leute Nachrichten aussuchen", sagt Prof. Dr. Oliver Quiring. "Aber was machen sie danach?"
Dreijähriges DFG-Forschungsprojekt
Dieser Frage geht der Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs für Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik der JGU zusammen mit Doktorand Marc Ziegele auf den Grund. "Vom Nachrichtenwert zum Diskussionswert: Ursachen, Bedingungen und Folgen von Anschlusskommunikation auf massenmedialen Websites" haben sie ihr auf drei Jahre angelegtes Forschungsprojekt überschrieben, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird.
Die beiden sitzen in Quirings Büro im Georg Forster-Gebäude auf dem Gutenberg-Campus. "Der Vorteil von solch einem DFG-Projekt ist, dass ich mit jungen Leuten zusammenarbeite", meint der Professor mit Blick auf Ziegele. "Marc macht mich auf viele Dinge aufmerksam, die ich sonst übersehen würde."
Dass diese beiden Wissenschaftler die moderne Vielfalt an Kommunikationskanälen durchaus unterschiedlich nutzen, wird schnell klar. Ziegele hat sein Tablet mitgebracht und zeigt die Präsentation des Forschungsprojekts auf der DFG-Seite www.terra-digitalis.dfg.de. Quiring kramt derweil eine Ausgabe der renommierten Zeitschrift Journal of Communication hervor. Dort findet sich der Aufsatz "What Creates Interactivity in Online News Discussions?", den er mit Marc Ziegele und Timo Breiner verfasst hat.
Im Gespräch ergänzen sich beide. Sie fallen sich nicht ins Wort, aber wo der eine etwas auslässt, springt der andere ein.
Verschiebung der Kommunikation
Ziegele und Quiring nahmen einerseits die Nachrichten-Websites von Magazinen und Zeitungen wie SPIEGEL, DIE WELT oder Bild unter die Lupe. Andererseits schauten sie sich die Facebook-Foren dieser Blätter an. "Das eine könnte man als Leserbrief 2.0 bezeichnen", sagt Ziegele, "das andere als Stammtisch 2.0." Die Einträge auf Facebook näherten sich der Alltagskommunikation an. "Sie sind umgangssprachlicher und dialogischer, häufig aber auch polemisch und provokativ." Auf den Nachrichten-Websites dagegen sei der Ton sachlicher, ein echter Dialog komme jedoch selten zustande.
"Mit der Diskussion im Netz haben wir kein völlig neues Phänomen", meint Quiring. "Es ist vielmehr eine Verschiebung der Kommunikation. Einige Befragte sagten uns, dass sie über das ein oder andere Thema gern analog mit Verwandten oder Freunden diskutieren würden. Nur sind die nicht immer verfügbar."
Überraschend ist die Schärfe des Tons aber gerade auf Facebook: "Obwohl die Leute dort häufig mit ihrem echten Namen kommentieren, sind sie sich fremd, sie haben keine Beziehung zueinander", erzählt Ziegele. "Sie haben den Eindruck, dass es keine Folgen hat, wenn sie jemanden angreifen, dass sie machen können, was sie wollen." – "Das ist wie bei einem Open-Air-Festival", meint Quiring. "Die Leute gehen danach auseinander, sie müssen am nächsten Tag nicht miteinander arbeiten." Phänomene wie die Shitstorms, die regelmäßig über Politiker und anderweitig Prominente hereinbrechen, sind absehbar.
Für das Projekt nahmen sich die Wissenschaftler Diskussionen zu fünf Nachrichteninhalten vor, die höchst unterschiedlich ausfielen. Der Veggieday etwa stieß auf ein starkes Echo, die Hessen-Wahl dagegen versank im Meer der Meldungen. "Je kontroverser ein Thema ist, je mehr es zugespitzt wird, desto mehr Kommentare finden wir im Netz", sagt Quiring. "Wenn das auch noch mit der Meinungsäußerung eines Journalisten zusammenkommt, dann geht es richtig ab."
Von Fairness und Freiheit
Überhaupt beobachten die Kommentatoren die Journalisten im Netz sehr genau. "Wenn ein Journalist auch nur einen Rechtschreibfehler begeht, findet er innerhalb von Minuten eine Reaktion darauf – oder liest Argumente gegen die Position, die er einnimmt."
"Wenn allgemein als wichtig empfundene zentrale Werte wie Fairness, Gerechtigkeit oder Freiheit im Spiel sind, führt das auch zu mehr und zu hitzigeren Diskussionen", ergänzt Ziegele. Und wer sich direkt betroffen fühlt, schreit sowieso eher auf.
Mit 52 Menschen, die sich regelmäßig im Netz zu Wort melden, hat Ziegele ausführliche Interviews geführt. Zwei unterschiedliche Typen konnte er unterscheiden: Der eine schreibt eher sachliche Kommentare, der andere kommentiert aus dem Bauch heraus. Beiden ist gemein: "Sie reden eher über Sachen, von denen sie Ahnung haben, oder wo sie glauben, Bescheid zu wissen", sagt Quiring. Kommt also keine Diskussion auf, heißt das nicht, dass die Leute nicht interessiert sind an einer Nachricht. "Zur Präsidentschaftswahl im Iran etwa meinte jemand: Ja, er sei interessiert. Aber was solle er dazu sagen? Er kenne sich nicht aus."
Noch mehr Antworten
Bleibt noch zu klären, wie es zu den unterschiedlichen Kommunikationssphären kommt: Dem Stammtisch 2.0 bei Facebook und dem Leserbrief 2.0 auf den klassischen Nachrichten-Websites. Ganz wichtig dabei sei die Rolle der Journalisten bei den Nachrichtenseiten, meint Quiring: "Sie moderieren, editieren, wählen aus."
"Die technischen Rahmenbedingungen spielen auch eine Rolle", erklärt Ziegele. „Wie aufwendig ist es, einen Kommentar zu schreiben? Muss man sich extra anmelden?" Die Architektur der Websites wirkt sich ebenfalls aus: "Bei SPIEGEL ONLINE etwa werden die Kommentare chronologisch aufgeführt, bei der WELT sind sie nach Beliebtheit geordnet", sagt Quiring. Zudem fordern einige Anbieter, dass Diskussionen nicht anonym geführt werden dürfen.
Nach zwei Jahren kann Quiring sagen: "Wir haben sehr viele Muster gefunden, aber wir wissen noch nicht genau, welche dominant sind." Das soll in der letzten Projektphase geklärt werden. Nach den qualitativen Erhebungen und der sorgfältigen Sichtung von Einzelfällen geht es nun um quantitative Erhebungen: Diskussionen zu Nachrichten werden massenhaft ausgewertet. Danach werden Ziegele und Quiring noch ein paar Antworten mehr parat haben.