27. Dezember 2011
Matthias Neubert und sein Team sind in Aufbruchstimmung, denn die Wissenschaftler am Genfer Forschungszentrum CERN haben erste Anzeichen für die Existenz des Higgs-Bosons gefunden. Dies ist der letzte Baustein, der im Standardmodell der Physik noch fehlt. Nun erwartet der Leiter der Theoretischen Elementarteilchenphysik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) einen Riesenschub für sein Forschungsgebiet.
Im Gang vor seinem Büro hängt ein Bildschirm mit Direktschaltung ins Genfer CERN, das weltweit größte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik. Prof. Dr. Matthias Neubert, seine Kollegen und die Studierenden können jederzeit verfolgen, was in der Schweiz passiert - und es passiert viel in diesen Tagen, auch wenn die Medien es manchmal etwas verzerrt wiedergeben: Das bereits 1964 postulierte Higgs-Boson sei nun endlich entdeckt, war in einigen Zeitungen zu lesen.
Hinweis auf Higgs-Boson am CERN
"Es ist noch keine Entdeckung", stellt Neubert klar. "Aber jetzt gibt es erstmals konkrete Hinweise, dass Higgs-Teilchen existieren könnten." Proton-Proton-Kollisionen im Large Hadron Collider (LHC) am CERN führten zu diesem Ergebnis. Nun rauchen auch in Mainz die Köpfe. "Solche neuen Daten beleben unsere Forschung sehr", meint Neubert. "Es ist wie eine Revolution."
Der britische Physiker Peter Higgs sah in dem nach ihm benannten Boson die Erklärung, woher die übrigen elementaren Teilchen ihre Masse bekommen. Neubert wählt ein Bild, um das etwas anschaulicher zu machen: "Im ganzen Universum existiert eine Art Äther. Die Teilchen fliegen darin und werden abgelenkt. Das nennen wir Masse. Die Idee, das überall um uns herum Äther ist, den noch keiner gesehen hat, mögen die Leute nicht", räumt der Physiker lächelnd ein. Aber darauf kann er keine Rücksicht nehmen.
Tafel hilft beim Denken
Neubert sitzt in seinem Büro, das zumindest ein Klischee in Sachen Elementarteilchenphysik bedient: Eine große Tafel hängt an der Wand, und Kreide liegt bereit, um den bereits notierten Formeln Neues hinzuzufügen. "Die Tafel hilft ungeheuer beim Denken", sagt der Wissenschaftler. Gegenüber steht Fachliteratur, garniert mit gerahmten Fotos. Der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman ist zu sehen, natürlich vor einer Tafel. Doch vor allem stehen hier Bilder von Neuberts Kindern.
"An meinen Kindern sehe ich, wie schwer es zu erklären ist, was wir hier tun." Im Kern geht es um eine Theorie, die erklärt, wie das Universum entstand und woraus es besteht. Dazu werden einerseits immer größere Beschleuniger wie das LHC gebaut, um den Teilchen mit Messungen auf die Spur zu kommen, andererseits verfeinern Neubert und seine Kollegen die Rechenverfahren rund um diese Teilchen immer weiter.
Blick auf die kleinsten Bausteine
Doch obwohl es für sie um die kleinsten Bausteine des Universums geht, suchen sie doch Antworten auf große Fragen. "Fünf Sechstel der Materie des Universums bestehen zum Beispiel aus dunkler Materie. Unser Standardmodell hat jedoch keine Kandidaten dafür." Dass es diese Materie gibt, ist klar. "Wir sind überzeugt, früher oder später entsprechende Teilchen zu finden."
All das klingt sehr theoretisch. Aber Neubert weiß, wie er den Bogen spannt von der Quantenmechanik zum Alltag, von der Theorie atomarer und subatomarer Vorgänge hin zum Menschen. "Die quantenmechanische Realität ist eine andere, als die, mit der wir vertraut sind. Dinge können gleichzeitig überall sein, sie können sogar teleportiert werden. Das scheint vielen verrückt, doch es berührt direkt die Idee der deterministischen Natur, die davon ausgeht, dass ich alles vorhersagen kann, wenn ich alle wirkenden Kräfte kenne." Eine Illusion, denn: "In der Quantenmechanik gibt es nur Wahrscheinlichkeiten. Der Zufall ist tief verwurzelt in unserer Natur."
Die Quantenmechanik und die Galaxien
Das Universum mit seinen unregelmäßig verteilten Galaxien ist ein augenfälliges Beispiel für die Wirkung der Quantenmechanik. "Kurz nach dem Urknall war alles noch so klein, dass bei der Verteilung der Materie die Quantenphysik zum tragen kam." Gäbe es diese Wirkkräfte nicht, sähe der Himmel ganz anders aus. Und wem das immer noch nicht reicht: "Ohne Quantenmechanik gäbe es keine Computer, keine Handys."
Zwar mögen nur wenige Leute verstehen, was dort auf Neuberts großer Tafel gerechnet wird. Doch die Ergebnisse betreffen jeden. Und gerade jetzt ist sein Team tüchtig am Arbeiten. "Denn sobald wir neue Daten in Händen halten, haben wir auch neue, kreative Ideen." Diese Daten verdanken die Mainzer im Moment den Messungen am CERN, das draußen vor Neuberts Büro auf dem Bildschirm zu beobachten ist. "Wir wissen immer, was dort passiert." Und demnächst könnte die Entdeckung des Higgs-Teilchens anstehen. "Davon gehe ich aus", meint Neubert optimistisch.