Im Strom schwimmen – aber mit Rückgrat

25. Juli 2016

Prof. Dr. Tanjev Schultz sieht sich in seiner neuen Position am Journalistischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis. Der erfolgreiche Journalist will seinen Studierenden das Handwerkszeug und das Rückgrat für eine Karriere in einer Medienwelt vermitteln, die sich derzeit stark verändert und deren Umbruch viele Chancen, aber auch große Herausforderungen birgt.

Eben erst war er mit Studierenden für ein paar Tage in Dresden. "Wir haben uns eine Pegida-Demo angeschaut. Wir wollten wissen: Was sind das für Leute, was ist das für ein Milieu? Wir sahen zum Teil ganz bürgerlich wirkende Menschen, die dort protestierten und laut 'Lügenpresse' skandierten." Gerade dies sollten die Studierenden vom Journalistischen Seminar der JGU einmal selbst erleben. Außerdem hatten sie in Eigenregie Termine vereinbart, um sich mit verschiedenen Facetten der Stadt und der Region vertraut zu machen. "Nun werden sie ihr eigenes Magazin dazu erstellen. Sie werden ihre Themen aufarbeiten und in unterschiedlichen Darstellungsformen präsentieren."

Dieser starke Praxisbezug in der Lehre war einer der Gründe, warum Prof. Dr. Tanjev Schultz zum Sommersemester 2016 dem Ruf an das Journalistische Seminar am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gefolgt ist. "Es ist eine komfortable Position für die Studierenden und für mich, einerseits die Studierstube zu haben, andererseits aber auch rausgehen zu können, um journalistisch zu arbeiten."

Medienwelt reflektieren

Jene Studierstube, in der über den Journalismus kritisch nachgedacht werden kann, ist Schultz dabei mindestens ebenso wichtig, das betont er immer wieder im Gespräch. Sie ist das zweite große Motiv für seinen Umzug aus den Redaktionsräumen der Süddeutschen Zeitung (SZ) in den alten Universitätsbau aus dem 17. Jahrhundert, die Domus universitatis im Herzen von Mainz. "Unsere Studierenden haben hier die Chance, die Medienwelt zu reflektieren. Außerdem können wir ihnen Basiswissen vermitteln und all die Methoden mitgeben, die sie später im Berufsleben brauchen."

Bis vor wenigen Monaten hat Schultz noch selbst als Journalist gearbeitet. Unter anderem berichtete er für die SZ vom Prozess zu den NSU-Morden. Seine Artikel über die Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg brachten ihm den Goethe-Medienpreis der Goethe-Universität Frankfurt am Main ein. "Jetzt, bei den Panama-Papers, wäre ich gern wieder dabei gewesen", räumt er lächelnd ein. "Aber ich bin auch jemand, dem es sehr wichtig ist, theoretisch zu arbeiten. Ich bin ein Brückenmensch zwischen zwei Welten, die nicht immer so leicht miteinander können."

Schultz studierte Philosophie, Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin, an der Fernuniversität in Hagen und an der School of Journalism der Indiana University im US-amerikanischen Bloomington. An der Universität Bremen promovierte er mit der Dissertation "Geschwätz oder Diskurs? Die Rationalität politischer Talkshows im Fernsehen".

Grenzen der Differenzierbarkeit

Nach dem Resümee seiner Dissertation gefragt, warnt Schultz: "Meine Ergebnisse eignen sich nicht für journalistische Schlagzeilen." Dann beschreibt er die Zielsetzung in seiner Arbeit. "Es ging mir sehr stark darum, die Habermas-Idee von Öffentlichkeit, von einer idealen Kommunikation anzuwenden", erklärt der einstige Mitarbeiter des Habermas-Schülers Bernhard Peters. "Talkshows entsprechen offensichtlich nicht dem idealen Diskurs." Aber reines Geschwätz seien sie eben auch nicht.

"Es gibt große Unterschiede zwischen den Formaten. Es geht um die Frage, ob wirklich diskutiert wird oder ob nur Bekenntnisse und Floskeln vorgebracht werden." Schultz konstatiert, dass einige Talkshows durchaus argumentative Ansätze vermitteln können. "Vielleicht haben wir einfach überzogene Ansprüche. Sind denn unsere Diskussionen im Bekanntenkreis oder die Auseinandersetzungen auf politischer Ebene wirklich niveauvoller?"

Schultz meint: "Der Wissenschaft kommt es darauf an, Details genau zu betrachten, während im Journalismus die Verführung groß ist, alles über einen Leisten zu schlagen." Es sei eben schwer, in kurzen Artikeln große Themen abzuhandeln. "Man kommt im Journalismus unweigerlich an die Grenzen der Differenzierbarkeit. Der NSU-Prozess etwa ist so komplex, dass er tatsächlich Millionen von Aktenseiten füllt. Deshalb musste ich in meinen Artikeln reduzieren und Dinge weglassen, selbst wenn ich manchmal an die 800 Zeilen zur Verfügung hatte."

Ethische Haltung und Reflexion

Im Journalistischen Seminar sind solche Praxiserfahrungen gefragt. Schultz wird also nicht von seiner Person absehen können, wenn er hier lehrt. Seine journalistische Arbeit wird unweigerlich Thema sein. "Aber ich werde selbstverständlich niemals nur aus SZ-Sicht lehren. Ich bin offen für andere Schulen, andere Stile, andere Medien. Ich will kein Schulmeister sein, sondern die Studierenden dazu anregen, eigene Positionen, eigene Ansätze zu finden. Sie sollen als mündige Bürger und als Journalisten mit Rückgrat in den Beruf gehen."

Schultz hat erlebt, wie junge Menschen allzu schnell in den Journalismus geworfen werden. "Bei uns haben die Studierenden die Chance, einen Schritt zurück zu treten. Sie werden nicht gleich vom Alltagstrott der Berichterstattung vereinnahmt. Das Studium soll schließlich eine Phase sein, in der man viel aufnimmt und sich die Welt sortiert." Damit sei es eine Zeit, um Weichen zu stellen – auch für einen Qualitätsjournalismus. "Die Gefahr ist groß, dass Medien im Rudel Dinge tun, die unseriös und einfach schlecht sind." Dagegen setzt Schultz den reflektierten Journalisten, der sich seiner ethischen Sorgfaltspflicht bewusst ist.

Angesichts des großen Umbruchs in der Medienwelt mag das für manchen sehr idealistisch klingen. Zeitungsredaktionen schließen, während Blogger im Internet um die Meinungsführung rangeln. Jeder kann veröffentlichen, jeder kann gelesen und gehört werden. Wo ist da noch Platz für gut ausgebildete Journalisten?

Gegen die Untergangsstimmung

"Es gibt diese Untergangsstimmung", sagt Schultz, "und ich will nicht leugnen, dass es derzeit schwierig ist auf dem Medienmarkt. Aber gerade im Zeitungsjournalismus war es noch nie leicht, gut unterzukommen, vielleicht sogar Karriere zu machen in großen Häusern. Wir erleben im Moment Abgesänge auf den Journalismus und zugleich eine riesige Vielfalt und einen ungeheuren kreativen Output." Gerade der digitale Markt wachse und wuchere dabei mitnichten nur wild vor sich hin. Schultz nennt als ein Beispiel von vielen die Rechercheplattform correctiv.org. Er erwähnt auch das innovative Lehrprojekt "Datenjournalismus" des Journalistischen Seminars der JGU, das sich als Antwort auf diese Entwicklung gerade im Aufbau befindet.

"Wir sind verunsichert, weil so viel los ist. Aber solch eine dynamische Phase birgt eben auch viele Chancen. Das ist das Schöne, aber auch das Anstrengende an meinem Objekt: Es ist ein 'moving target'. Das fließt hier den Rhein ordentlich runter. Wir müssen hinterher schwimmen. Und vielleicht gelingt es uns sogar, ein Stück vorauszuschwimmen."