21. Februar 2017
Seit Jahren beschäftigt sich Julia Gehres vom Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) mit dem venezianischen Karneval. Für ihre Dissertation hat sie 106 Einheimische und Touristen befragt, um herauszufinden: Wird der Karneval in der Lagunenstadt als ein in der Tradition und der Geschichte verwurzeltes Fest oder doch eher als reines Event für Touristen gesehen?
Der Karneval in Venedig lockt Jahr für Jahr Scharen von Touristen an und beinahe jeder hat Bilder zu diesen Feiern im Kopf: von vielfältigen Festivitäten, von historischen Umzügen, von edlen Masken. Die Eröffnung des venezianischen Karnevals ist den Medien regelmäßig Berichte wert. "Ich erinnere mich an einen längeren Beitrag in den ARD-Nachrichten", erzählt Julia Gehres. "Der Karneval in Venedig ist berühmt, aber es gibt kaum Forschung zur aktuellen Situation. Zumindest aus Deutschland ist mir nichts bekannt."
Mit ihrer Dissertation möchte die Kulturanthropologin Abhilfe schaffen. "Ich wollte herausfinden, was der Karneval in Venedig tatsächlich ist und wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Dazu habe ich die Menschen vor Ort befragt, vor allem die Einheimischen, aber auch Touristen." Insgesamt hat sie 106 Interviews geführt, die sie im Moment auswertet. Endgültige Ergebnisse kann sie zwar noch nicht präsentieren, wohl aber Eindrücke schildern und Markantes wiedergeben: "Die meisten Venezianer haben sich erst mal beschwert, wenn ich sie zum Karneval befragte."
Verstimmte Venezianer
In ihrem Büro am Institut für Film-, Theater- und Empirische Kulturwissenschaft der JGU ist so gar nichts von Karneval oder Fastnacht zu entdecken. "Es gab Bekannte, die mich gefragt haben, warum ich denn nichts zur Mainzer Fastnacht oder zum Kölner Karneval mache", meint Gehres. "Aber ich habe einfach keinen besonderen Bezug dazu."
Gehres studierte Kulturanthropologie/Volkskunde, Germanistik und Italianistik an der JGU und an der Università di Bologna. Mehrfach reiste sie aus verschiedensten Anlässen nach Italien. Ihre Magisterarbeit trägt den Titel "Kulturmetropole Florenz: Eine Ethnologie der Bereisten". Dort untersuchte sie die Einstellung der Einheimischen zum Tourismus. Im Jahr 2010 war sie dann das erste Mal in der Lagunenstadt. Es folgten mehrere Aufenthalte, unter anderem im Zuge eines Forschungsstipendiums am Deutschen Studienzentrum in Venedig.
Dem Karneval kam sie näher und näher. "Ich selbst bin mit einer Gruppe beim Corteo dogale mitgelaufen." Der Zug des Dogen auf den Markusplatz ist ein zentraler Bestandteil der Festlichkeiten. "Ich trug ein entsprechendes historisches Kostüm. Das war eine ganz besondere Erfahrung, auch weil ich sonst den Karneval ja eher von der Außenperspektive betrachte." Besonders war diese Erfahrung vor allem in einer Hinsicht: "Ich fühlte mich wie auf dem roten Teppich. Die Touristen sind in Massen auf uns losgestürmt. Wir wurden den ganzen Tag über fotografiert."
Damit ist sie schon bei dem Phänomen, über das sich so viele Venezianer in den Interviews beschwerten. "Sie sagen, der Karneval in seiner jetzigen Form habe nichts mit Venedig zu tun, es sei ein reines Touristenspektakel."
Wurzeln und Neubeginn
Gehres fragte unter anderem in Maskenläden und Hotels nach. Immer wieder bekam sie zu hören: "Die Touristen kommen nach Venedig, aber es bringt den Venezianern nichts. Die meisten übernachten nicht einmal in der Stadt. Die gehobene Gastronomie profitiert nicht von ihnen, denn alles soll möglichst billig sein." Ähnliches gelte für die Maskenverkäufer. "In vielen Läden, in denen anspruchsvollere, traditionelle Masken hergestellt werden, waren die Leute richtig verzweifelt: Sie bleiben auf ihren Produkten sitzen." Die Venezianer schwärmten von vergangenen Zeiten. "Früher war alles besser – das habe ich oft gehört."
In ihrer Dissertation fragt Gehres nach dem Charakter des aktuellen venezianischen Karnevals: Ist es ein in Traditionen verwurzeltes Fest oder eher ein aufgesetztes Event, ein Touristenspektakel, das wenig mit der Stadt zu tun hat? Ihre vorläufige Antwort ist nicht so einfach und eindeutig wie die jener eher skeptisch eingestellten Venezianer.
Klar ist: Der venezianische Karneval ist alt. Ein Dokument aus dem 11. Jahrhundert gilt vielen als Hinweis, dass es ihn in dieser Zeit bereits gab. Seine Blüte erreichte er im 18. Jahrhundert. Berühmt sind die Berichte von Persönlichkeiten wie Casanova oder Goethe. Napoleon machte 1797 der Unabhängigkeit der Lagunenstadt und zugleich dem Karneval ein Ende. Danach gab es zwar hier und da kleinere Festlichkeiten, doch im Großen wiederbelebt wurde der Karneval erst 1979: "Das geschah damals sehr öffentlichkeitswirksam. Nach und nach kamen dann immer mehr Touristen." Die Regie für die Feierlichkeiten übernahm die Stadtverwaltung, die jeweils eine Art Intendanten ernennt, der die Veranstaltungen organisiert und koordiniert.
Was ist traditionell?
"Wenn Venezianer davon reden, dass früher alles besser war, beziehen sie sich oft auf die 1980er-Jahre. Damals sei alles spontaner und der Karneval ein Fest der Venezianer gewesen." Gehres setzt dagegen: "Die Wiederbelebung geschah bereits mit Blick auf Touristen." Es war ein neuer Höhepunkt im Veranstaltungskalender der Stadt. Auch wenn es zum Teil Anknüpfungspunkte an ältere Zeiten gab, wurde der Karneval in vielerlei Hinsicht neu erfunden.
Das spiegele sich auch im Thema Masken: Wenn sich Ladenbesitzer beschweren, dass sie ihre traditionell hergestellten Masken nicht loswerden, stellt sich auch hier die Frage: Was ist traditionell? Das gegenwärtige Bild venezianischer Masken prägte unter anderem Fulvio Roiter in den 1990ern mit seinen bekannten Fotos von Verkleideten vor venezianischem Ambiente.
Gehres stellt klar: "Der Karneval wird nicht nur negativ gesehen. Im Gegenteil, es gibt viele andere Meinungen." Sie will Spannungsfelder aufzeigen zwischen Tradition und Neuerung, aber auch zwischen Idealisierung und Realität. "Das Bild ist sehr komplex, das macht die Arbeit an meiner Dissertation schwierig."
Die aufwendig verkleideten Maskenträger etwa, die Venedig zum Karneval bevölkern, sind zum größten Teil Touristen, die sich wiederum von anderen Touristen belagert fühlen. "Sie sind schon um 6 Uhr morgens auf den Beinen, um Fotos von sich zu machen." Später ist das angesichts des Andrangs gar nicht mehr zu realisieren.
Von Engeln und Ratten
Alte Traditionen wie der Engelsflug, ein weiterer Höhepunkt des venezianischen Karnevals, machten grundlegende Metamorphosen durch. Einst hieß der Engelsflug Türkenflug: Ein türkischer Akrobat ließ sich am Stahlseil vom Campanile auf den Markusplatz herab. Daraus wurde dann ein Taubenflug mit Vogelmodell und heute wieder eine Engelsflug genannte Veranstaltung, dessen Protagonistin die Gewinnerin einer Misswahl ist.
Auch alternative Karnevalisten gibt es in Venedig: "Sie machten aus dem Engels- einen Rattenflug, was viele Diskussionen gab." Venedig hatte immer wieder unter Ratten zu leiden. Doch sie als eine Art Wahrzeichen in die Lüfte zu heben, erntete viel Kritik. "Inzwischen ist dieser Rattenflug aber auch in die Feierlichkeiten integriert."
Gehres' Dissertation trägt den Arbeitstitel "Fest – Event – Spektakel: Zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse im urbanen Raum." Sie wird darin die Reaktionen auf den venezianischen Karneval in ihrer ganzen Bandbreite darstellen. Ein Vergleich mit den Fastnachtsfesten und -spektakeln hierzulande allerdings bleibt außen vor. "Das wäre bestimmt interessant", meint Gehres, "aber das wäre noch mal ein eigenes, umfangreiches Forschungsthema."