Kunst sprießt im Garten, wuchert und blüht

29. August 2013

Die Murmler spielen im Unterholz, unter der Prächtigkeitshilfe keimt Fantastisches und ein Baum wächst aus dem Zelt: Fenster in geheimnisvolle Welten öffnen sich. Mit ihrer Ausstellung "Gemiete Wähsen" bringt die Klasse für Bildhauerei der Kunsthochschule Mainz einen besonderen Zauber in den Botanischen Garten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).

Im Beet der bescheidenen Glockenblumengewächse ragt ein schlankes Gestell aus grünen Stahlrohren hoch in den Himmel. Es öffnet sich dem bewölkten Blau als fremdartige Blüte, in deren Schoß sich schwarze Plastikrohre winden. Darunter scheint ein frei hängender glasklarer Kristall kosmische Energien zu bündeln für das, was einmal im golden glitzernden Mutterboden heranwachsen soll: "das faszinierendste, schmuckvollste, grandioseste und schillerndste pflanzliche Geschöpf auf Erden ..."

"Prächtigkeitshilfe" nennt Paul Schuseil seine Skulptur. Sie ist eines von 17 Exponaten der Ausstellung "Gemiete Wähsen", mit der sich die Klasse für Bildhauerei an der Kunsthochschule Mainz auf ungewohntes Terrain begeben hat.

Unkraut des Zweifels

Doch davon ahnen viele Besucher des Botanischen Gartens nichts. Rätselnd stehen sie vor der merkwürdigen Apparatur. Einerseits wirkt sie schon ein wenig wie die üblichen Rankhilfen, andererseits birgt sie merkwürdige Komponenten. Sogar ein MP3-Player ist auszumachen, der mit klassischer Musik das Sprießen fördern soll. "Wächst da wirklich etwas?", fragt eine ältere Dame verunsichert. "Glaub' ich nicht", winkt ihr Begleiter ab. "Sieht komisch aus, irgendwie nach Esoterik."

"Ich habe nach Möglichkeit Materialien ausgewählt, die sowieso hier im Botanischen Garten verwendet werden", erzählt Schuseil zu seinem Werk. Neu hinzugefügt hat er seinen selbst kreierten Golddung und den Kristall, Schläuche und den MP3-Player. So wirkt seine Kunst vertraut und fremd zugleich. Die "Prächtigkeitshilfe" weckt Erwartungen an jene Pflanze, die der Studierende mit blumigen Worten ankündigt. Doch auch Misstrauen sprießt, dem Schuseil im Katalogtext zur Skulptur augenzwinkernd den Garaus macht: "Zweifel sind ein weit verbreitetes Unkraut und sollten schnell gejätet werden!"

Prof. Martin Schwenk hat mit seiner Klasse für Bildhauerei insgesamt 17 ungewöhnliche Akzente im Garten gesetzt. "Die Studierenden sollten Arbeiten für einen ganz speziellen Ort entwickeln." Den mussten sie sich selbst suchen auf dem weiten Gelände. "Manche brauchten dafür Wochen." Der Prozess, an dessen Ende die Ausstelung "Gemiete Wähsen" stehen, war aufwendiger, als Schwenk zunächst vermutet hatte. "Ich habe erwartet, dass sich die Studierenden sehr intensiv mit dem Ort auseinandersetzen. Ich finde, dass sich eine Skulptur sensibel ihrem Umfeld anpassen muss."

Feld der Möglichkeiten

Das grasgrüne Zelt von Veronika Weingärtner fügt sich beinahe nahtlos in die Baumlandschaft. Zuerst gleitet das Auge des Spaziergängers achtlos darüber hinweg, dann stutzt er. Zeltet da jemand im Botanischen Garten? Wer genauer hinschaut, entdeckt: Das Zelt steht nicht nur inmitten der Bäume, ein Baum wächst aus seiner Mitte heraus.

"Der Garten ist zwar wie ein Riesenfeld der Möglichkeiten", meint Weingärtner. "Aber es ist auch schwierig, hier den eigenen Platz zu finden. Wir konnten nicht mit fertigen Ideen kommen. Die Arbeiten entwickelten sich in der Umgebung. Es gibt hier viel mehr zu beachten als im Atelier." Sie könnte auch einiges über die handwerklichen Probleme erzählen, vor die ihre Skulptur sie stellte. Doch das ist Nebensache.

"Viele Besucher waren von meiner Arbeit irritiert", erzählt sie. Ihr Baum mit Zelt hat etwas Surreales, etwas Unmögliches scheint da wahr geworden zu sein. Weingärtner selbst hält sich zurück mit Interpretationen. "Die Leute sollen frei assoziieren." Der Professor springt kurz ein: "Einige fühlten sich bei unserer ersten Führung an den Taksim-Platz erinnert, ich selbst dachte an die Occupy-Bewegung."

Totem und Murmler

Die Kunst im Grün ist selten auffällig, oft sogar versteckt. Sie blüht in Gewächshäusern oder rankt sich über Bodenplatten, schmiegt sich an Gebäude oder steht allein im Kornfeld. "Wir haben natürlich mit dem Direktor des Botanischen Gartens und mit seinen Mitarbeitern abgestimmt, was möglich ist", sagt Schwenk. "Die Zusammenarbeit war hervorragend. Da wird es sicher eine Fortsetzung geben."

An einem Wegweiser hängt ein Totem. Ein Stück bleicher Schädel ragt aus grauer Wolle und rosa Spitzenwäsche. Es weist einen ganz eigenen Weg und führt zu den Murmlern, Geschöpfen aus bunten Textilien und Knochen. Einer kauert lauernd, ein anderer richtet sich selbstbewusst auf. Die eingefrorenen Bewegungen wirken wie direkt aus dem Leben gegriffen. Da hält ein Reh inne, ein Hase schaut sich prüfend um. Das schlichte Fellkleid jedoch weicht lila Strümpfen oder grellblauem Nylon. Niedlichkeit und ein leiser Grusel, Natur und Kunst reichen sich die Hand.

"Ich arbeite mit Dingen, die andere wegwerfen", sagt Julia Sammer, "mit Strumpfhosen, mit Draht und mit Rehbockschädeln, die aussortiert wurden, weil sie als Trophäen nicht gut genug waren." Nun stehen sie als Murmler im Garten. Ein Passant hat einen Ball dazu gelegt. Es wirkt, als wollte er den kleinen Wesen ein Spielzeug zukommen lassen.

Katalog einer Ausstellung

"Im Atelier ist meist klar, wer kommt. Hier haben wir ein ganz anderes Publikum", meint Sammer. "Das ist spannend für uns." Die Klasse für Bildhauerei ist noch jung. Dies ist ihr erstes großes Projekt in solch ungewöhnlicher Umgebung.

Zum Sommerfest des Botanischen Gartens präsentierten die Studierenden und ihr Professor nun den Katalog zur Ausstellung. Es ist ein Band mit prächtigen großformatigen Fotos und knappen Texten geworden. "Es war eine spannende Herausforderung, so einen Katalog zu gestalten", erzählt Sammer. Finanziell griffen der Klasse dabei die Freunde des Botanischen Gartens und die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur unter die Arme.

Am 8. September werden die Murmler, die Prächtigkeitshilfe, das Zelt und die anderen Skulpturen aus dem Garten verschwunden sein. Aber der Katalog bleibt – und vielleicht kommt die Klasse oder ihre Nachfolger in den nächsten Jahren ja zurück und zaubert neue Wunder in die Botanik.