20. Januar 2014
In diesem Jahr startet ein Forschungsprojekt, das den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche aufarbeiten soll. Prof. Dr. Matthias Pulte von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gehört zu dem Beraterkreis, der sich mit der Auswahl der beteiligten Wissenschaftler befasst. Dabei ist dem Kirchenrechtler vor allem eines wichtig: "Wir müssen Strukturen schaffen, die verhindern, dass so etwas jemals wieder vorkommt."
Sein Büro ist eher unscheinbar, die Einrichtung beinahe schon karg. Abgesehen von den Gesetzestexten in den Regalen ist auf den ersten Blick nicht viel zu entdecken. Eine Kerze schmückt den kleinen Besprechungstisch. "Soll ich sie anzünden?", fragt Prof. Matthias Pulte. Das Streichholz hat er schnell zur Hand, der Docht des Teelichts fängt Feuer, ein Hauch Wärme breitet sich aus.
"Ich arbeite grundsätzlich lieber im Hintergrund, im Verborgenen", erklärt der Professor für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der JGU. "Ich sehe aber auch, dass es gut ist, in den Medien Dinge zu vermitteln, die schwer zu vermitteln sind."
Deswegen hat sich Pulte ein Stück weit ins ungeliebte Rampenlicht begeben. Er will erklären, was die katholische Kirche tut, nachdem die Aufdeckung unzähliger Missbrauchsfälle nicht nur die Gläubigen, sondern die gesamte Öffentlichkeit erschüttert hat. "Es war der Super-GAU", sagt Pulte. "So etwas darf nie wieder passieren." Und damit meint er definitiv nicht jene Aufdeckung, sondern die Fälle des Missbrauchs selbst. Das wird sehr deutlich im Gespräch.
Forscherkonsortium gesucht
Pulte gehört einem achtköpfigen Beraterkreis an, der unter der Leitung des Trierer Bischofs Stephan Ackermann der Deutschen Bischofskonferenz ein Forschungskonsortium vorschlagen soll, das alle Facetten der Missbrauchsfälle untersuchen und aufarbeiten soll. Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen sollen zusammenkommen: Psychologen und Psychiater, Kriminologen und Sozialwissenschaftler sollen bei dem Projekt "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Diakone und Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" Hand in Hand arbeiten.
"Es geht mir vor allem darum, dass wir aus der Studie etwas lernen, damit so etwas nicht wieder passiert", sagt Pulte. "Wir haben es mit einem ungeheuren Vertrauensschwund zu tun. Die Verletzungen sind tief. Bei den Opfern ist das nicht mehr gutzumachen. Das anzuerkennen, ist schon geschehen."
Leider scheiterte Anfang 2013 das erste Forschungsprojekt unter der Leitung des Kriminologen Prof. Dr. Christian Pfeiffer. "Unsere Vorstellungen gingen auseinander. Aber nach Ende des Projekts haben wir sehr schnell einen Beraterkreis gebildet, der sich dann erst einmal Gedanken gemacht hat, wie genau ein neues Projekt aussehen soll. Über eines waren wir uns dabei bald einig: Eine Disziplin reicht nicht aus, um all das aufzuarbeiten."
So entstand die Idee eines Forschungskonsortiums: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen sollten sich zusammentun und dem Beraterkreis ihren jeweiligen Ansatz präsentieren. Das ist inzwischen geschehen. "Anfang des Jahres werden wir der Bischofskonferenz unsere Empfehlungen dazu vorlegen."
Aktenanalyse und Prävention
Seit 15 Jahren arbeitet Pulte als kirchlicher Richter. In dieser Eigenschaft ist er sowohl im Erzbistum Köln als auch im Bistum Mainz tätig. Im Beraterkreis kümmert er sich insbesondere um einen Aspekt: "Wir brauchen eine vernünftige Analyse der zur Verfügung stehenden Akten. Dabei muss aber auch der Datenschutz beachtet werden. Ein Vorwurf Pfeiffers bezog sich auf die Freigabe der Akten. Nun mag es für manchen merkwürdig klingen, aber auch jemand, der einen Missbrauch begangen hat, hat Persönlichkeitsrechte, die wir achten müssen, so schwer es uns auch fällt." Pfeiffer wollte alle Personalakten der Bistümer heranziehen. "Das hätte auch ein Screening von völlig unbescholtenen Menschen bedeutet. So etwas ist nach der Rechtslage einfach nicht zu machen", stellt Pulte klar.
Jenseits der Aktenanalyse sieht Pulte die bedeutendste Aufgabe des Konsortiums im Bereich der Prävention. "Es reicht nicht aus, irgendetwas festzustellen, was wir im Grunde schon wissen. Es ist uns wichtig, Daten zu erhalten, die uns sagen: Was können wir tun, was können wir institutionell in der Kirche verändern?"
Pulte lebte fünf Jahre im Priesterseminar, bevor er sich entschied, nicht den Weg des Zölibats zu gehen. Heute ist er verheiratet und hat zwei Kinder. "In den Priesterseminaren hat sich schon viel geändert. Früher war es so, dass ein Mal im Jahr Sexualität ein Pflichtthema war, dann wurde es abgehakt. Inzwischen wird ganz anders über dieses Thema geredet. Psychologen werden einbezogen. Ein Priester muss seine Sexualität annehmen. Eine Verdrängung wäre problematisch. Auf diesem Gebiet machen die Seminare heute schon einen sehr guten Job."
Auch das Dienstrecht in der Kirche müsse differenziert werden. "Mit einem Serientäter, dem 256 Einzeldelikte über Jahre hinweg nachgewiesen wurden, müssen wir ganz anders verfahren als mit jemandem, der einem Mädchen ans Knie gefasst hat. Beides sind Übergriffe, keine Frage, aber wir müssen doch unterscheiden nach der Schwere der Fälle."
Tiefe Wunden werden bleiben
Mehr Frauen in den Hierarchien der Kirche sind Pulte ebenfalls wichtig. "Wir brauchen eine gesunde Mischung der Geschlechter." Das könne durchaus sehr weit führen. "Manche Ämter sind heute für Frauen verschlossen. Aber wenn wir zu neuen Erkenntnissen kommen, sind manche Dinge vielleicht neu zu bewerten. Nur weil wir etwas 2.000 Jahre nicht getan haben, heißt das nicht, dass wir es in Zukunft auch nicht tun können."
Pulte redet mit viel Elan über all diese Ideen und Ansätze. Doch am Ende des Gesprächs bleibt immer noch eines: Die ungeheuren Verletzungen und die tiefen Wunden. "Ich glaube, dass die Bischöfe verstanden haben, warum die Leute so stark auf die Missbrauchsfälle reagieren. Ihr eigenes Entsetzen über die Dimensionen ist unendlich groß."
Die Missbrauchsskandale prägen das Verhalten bis in den kirchlichen Alltag. Das erlebt auch Pulte in seiner Eigenschaft als Diakon in Köln. "Früher habe ich einen Ministranten, der mit Problemen zu mir kam, schon mal in den Arm genommen. Heute ist der Umgang ein anderer. Ich frage mich, ob ich überhaupt noch Zeichen körperlicher Zuwendung an den Tag legen darf. Es ist ein teuflischer Aspekt dieser Missbrauchsfälle, dass die Möglichkeit nach Zuwendung in einem guten Sinne nahezu zerstört wurde."
Das Forschungskonsortium wird in noch in diesem Jahr die Arbeit aufnehmen. "Aber es wird ein sehr langer Prozess", sagt Pulte. "Wir werden uns permanent mit dem Thema befassen müssen." Dann hält er kurz inne, schaut ins Leere und meint zuletzt: "Wir können sehr dankbar sein, dass wir diesen neuen Papst haben. Er schenkt Menschen sein Vertrauen und sie ihm ihres. So jemanden brauchen wir in diesen Zeiten."