Ludwig Pollak und der Arm des Laokoon

28. Juli 2023

Jährlich findet in der Schule des Sehens auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Michel Oppenheim Lecture zur Erinnerung an den ehemaligen Mainzer Kulturdezernenten statt. Mit "Ein Virtuose des Sehens" beleuchten in diesem Jahr zwei Wissenschaftler den sensationellen Fund des Kunsthändlers Ludwig Pollak, der damit den Blick auf eine viel beachtete Skulptur veränderte.

Im Jahr 1903 entdeckte der Kunsthändler Ludwig Pollak den Arm des Laokoon – und veränderte damit grundlegend die Sicht auf eine der prominentesten Skulpturen der Antike. Goethe hatte einst Kluges über dieses Kunstwerk geschrieben, Lessing ebenfalls. Nun waren diese Zeilen womöglich Makulatur. "Man muss sich klar machen, was es eigentlich heißt, dass Pollak den Arm gesehen hat", mahnt Prof. Dr. Arnold Nesselrath. "Jemand kommt in einen vollgepackten Antiquitätenladen mit diesem zehn Kilo schweren Burschen und sagt: Das ist der Arm des Laokoon."

Kunsthistoriker Nesselrath ist gemeinsam mit Historiker und Schriftsteller Dr. Hans von Trotha in die Schule des Sehens auf dem Gutenberg-Campus gekommen, um von diesem sensationellen Fund zu berichten. Sie sind eingeladen, die Michel Oppenheim Lecture 2023 zu halten. "Mit dieser Vortragsreihe ehren wir den ehemaligen Mainzer Kulturdezernenten Michel Oppenheim", erklärt Dr. Patrick Schollmeyer, Kurator der Schule und Gastgeber des Abends. Oppenheim wirkte unmittelbar nach dem Krieg als Mainzer Kulturdezernent, er setzte sich für die Wiedereröffnung der JGU ein und war Mitbegründer der "Freunde der Universität Mainz e. V.", jenes Vereins, dank dessen Unterstützung 2014 die Schule des Sehens als Schaufenster der JGU eingeweiht werden konnte.

Ein Virtuose des Sehens

Unter dem Titel "Ein Virtuose des Sehens" erinnern von Trotha und Nesselrath an einen prominenten Kunsthändler und hochgeachteten Archäologen, der 1943 mit seiner Familie in Auschwitz ermordet wurde. "Ich habe festgestellt, dass die wenigsten Leute Ludwig Pollak kennen", meint von Trotha. "Als Figur drohte er vergessen zu werden." Das wollte der Autor verhindern: Trotha schrieb den Roman "Pollaks Arm". Über seine wissenschaftliche Recherche dazu lernte er Nesselrath kennen, den ehemaligen Direktor der Abteilung byzantinische, mittelalterliche und moderne Kunst der Vatikanischen Museen. Mit diesem ausgewiesenen Laokoon-Spezialisten entspann sich ein lebhafter Austausch.

Die 1506 wiederentdeckte Laokoon-Gruppe steht in den Vatikanischen Museen. Sie zeigt den Todeskampf des Priesters Laokoon und seiner beiden Söhne. "Laokoon durfte als Priester eigentlich keine Kinder haben, doch das hatten ihm die Götter noch durchgehen lassen", meint von Trotha. Dass er mit seiner Frau auf dem Altar schlief, war allerdings zu viel. Sie schickten Schlangen, um den Priester zu vernichten.

Die Skulptur zeigt diesen letzten Kampf, doch sie hatte einen Schönheitsfehler: Der rechte Arm fehlte – also wurde er rekonstruiert. Stolz hochgereckt steht er für unbeugsamen Heroismus. Mit Goethe, Winkelmann und Lessing sahen das viele so. Doch es gab immer auch Zweifler: Passt dieser Arm wirklich zur Gruppe? Durchbricht er nicht die Linien der Komposition? Immer mal wieder wurde ein angewinkelter Arm angedacht, der dann so gar nicht heroisch wirken würde. Und tatsächlich fand Pollak genau dieses fehlende Stück.

Die Sensation bleibt zunächst aus

"Der Arm hat die Welt verändert", konstatiert Nesselrath. "Es ist im Grunde eine Zeitenwende." Die Reaktion war zögerlich. Im Vatikan brauchte man noch 50 Jahre, bis man den Arm tatsächlich ausprobierte. "Da brach etwas um in einer Zeit, in der Stile praktisch nicht mehr galten."

Nesselrath und von Trotha skizzieren das Gezerre um den Arm Laokoons und die Gäste in der Schule des Sehens diskutieren engagiert mit. Die beiden sinnieren über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft und sie schauen auf jenen Kunsthändler, dessen jüdische Herkunft ihm den Weg auf eine Professur versperrte, was Pollak nie so ganz verwand. Von Trotha beschreibt in seinem Roman jene Nacht im Jahr 1943, als Besucher bei Pollak vorstellig wurden, um ihn zu warnen und Asyl im Vatikan anzubieten. Der lehnte ab.

"Etwas bösartig könnte man sagen, dass der Arm lange nicht angewinkelt wurde, weil ihn nicht ein christlicher Professor, sondern ein jüdischer Händler fand", meint von Trotha zum Schluss. Er erinnert sich, wie Nesselrath mit Blick auf den Kunsthändler bewundernd von einem "Virtuosen des Sehens" sprach. Pollak selbst schrieb damals: "Ich habe sofort gesehen, dass es der Arm des Laokoon ist … Weil ich ihn gesehen habe, ist er da."

Text: Gerd Blase