Mainz und die 68er

27. Februar 2018

Fiel Mainz während der bundesweiten Studentenproteste 1968 in einen Dornröschenschlaf? Was war los an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zu dieser Zeit? Erreichte die sexuelle Revolution auch die Stadt am Rhein? In einem Masterprojekt widmeten sich 17 Studierende der Kulturanthropologie/Volkskunde diesen und anderen Fragen. Ihre Antworten sind nun nachzulesen im Band "Mainz '68".

Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke, der Wortführer der Studentenbewegung, mit drei Schüssen schwer verletzt. Nach dem Attentat kam es zu heftigen Protesten, besonders in Westberlin. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, Bürger bauten Barrikaden. Der Spiegel berichtete, wie Uniformierte "blindlings in die passiv auf der Straße sitzenden Studenten" einschlugen. Die Ordnungskräfte setzten auf hartes Durchgreifen, die Demonstranten wurden immer aggressiver.

Und wie war es in Mainz? Einen Tag nach dem Anschlag auf Dutschke zog ein Schweigemarsch durch die Innenstadt vors Theater. Vertreter der politischen Hochschulgruppen wollten sprechen und auch der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch, selbst einst Student an der JGU, wollte sich an die Menge wenden. Doch in der Eile war es nicht gelungen, eine Lautsprecheranlage aufzutreiben. Also half die Polizei aus: Sie überließ den Demonstrierenden ihr Megafon. Die Veranstaltung war gerettet.

Sexy Sixties

Laura Blauschmidt und Ronja Schneider beschreiben diese Szenen in ihrem Beitrag "Blumensträuße und Megafon – die Mainzer Polizei und die Proteste 1968". Sie zitieren unter anderem Winfried Büttner, der seinerzeit frisch von der Polizeiakademie als Kommissar an die Polizeiinspektion 1 nach Mainz kam. "Die Sicherheit stellte damals niemand in Zweifel", schreibt er in seiner Mainzer Polizeigeschichte, "dafür waren keine großen Anstrengungen erforderlich." Mainz schien irgendwie anders zu sein ...

17 Studierende vom Fach Kulturanthropologie/Volkskunde am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der JGU haben sich unter Leitung von Prof. Dr. Michael Simon und Dr. Thomas Schneider in einem groß angelegten Masterprojekt mit den Vorgängen rund um die 68er-Bewegung in Mainz beschäftigt. Ein Jahr lang recherchierten sie. Es entstanden 15 Beiträge, die nun die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Volkskunde in Rheinland-Pfalz füllen: "Mainz '68".

"Es war schon eine andere Welt", meint Helena Sophie Klein. "Damals waren meine Eltern noch nicht mal geboren. Aber ich denke, dass dieser Abstand ein Vorteil für uns war. Als jemand, der nicht selbst involviert war, konnte ich nüchterner auf die Ereignisse schauen." Klein geht in ihrem Artikel "Es geschah aus reiner Lust" der Frage nach, ob die "Sexy Sixties" auch Mainz erreichten.

1969 hatte die Stadt ihren handfesten studentischen Skandal: Bei einem Presseball, veranstaltet vom Studenten-Magazin nobis, soll es auf der Bühne in der Alten Mensa zum Geschlechtsverkehr gekommen sein. Die großen Zeitungen berichteten darüber, JGU-Rektor Manfred Mezger und Kultusminister Bernhard Vogel forderten die Einstellung der Zeitschrift – und die spielte prompt mit dem Thema: "Coitus auf nobisball!?" titelte sie in ihrer nächsten Ausgabe und zeigte einen jungen Mann, der einer Frau leidenschaftlich den Hals küsst.

Archive und Zeitzeugen

Ausgehend von diesen Ereignissen schaut Klein genauer hin: Wie war das mit der Sexualität zur Zeit der 68er-Bewegung in Mainz? Sie bleibt nicht bei der Anekdote, sondern findet Antworten jenseits des Klischees und der grellen Schlagzeilen. Sie schreibt von einer Übergangszeit, in der viele Menschen ihre überkommenen Moralvorstellungen auf den Prüfstand hievten, in der sich das Werte- und Normengefüge des bundesdeutschen Gesellschaft grundlegend zu verändern begann.

"Am Anfang unseres Projekts stand die systematische Recherche", erzählt Prof. Dr. Michael Simon. "Vor allem das Universitätsarchiv hat uns sehr unterstützt, aber auch der SWR hatte sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt." Stadtarchiv, Fastnachtsarchiv und Kabarettarchiv öffneten ebenfalls ihre Türen. "Außerdem gab es einige Privatleute, die uns Dokumente und Fotos zur Verfügung stellten." Dazu gehörte auch Tom Schroeder, der an der JGU studierte, Chefredakteur der nobis war und 1975 das Mainzer OPEN OHR Festival mitbegründete – ein Festival, das dem Geist der 68er-Bewegung viel zu verdanken hat.

"Außerdem führten wir 19 Einzelinterviews mit Zeitzeugen", ergänzt Dr. Thomas Schneider. "Es entstand ein dicker Ordner, auf den jede und jeder Studierende für seinen Beitrag Zugriff hatte." Hier war wieder Schroeder mit von der Partie, der ehemalige Kommissar Büttner gab Auskunft, die SPD-Politikerin Ulla Brede-Hoffmann kam zu Wort – sie war 1971 an der Besetzung des Mainzer Publizistik-Instituts beteiligt – oder Rolf Zitzlsperger, ehemals Student und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JGU, der in den 1970er-Jahren als persönlicher Referent des Universitätspräsidenten Prof. Dr. Peter Schneider arbeitete.

Eine Institutsbesetzung

"Wir haben die 68er in Mainz sicher nicht lückenlos behandelt", räumt Schneider ein, "aber wir liefern schon ein umfassendes Bild. Wir haben auch darauf geachtet, zumindest im Ansatz Alltagsaspekte einzubringen. Nicht jeder hat protestiert, es gab auch ein Jahr 1968 jenseits aller politischen Vorkommnisse."

Die Studierenden glichen die unterschiedlichen Quellen miteinander ab. Schließlich sind gerade persönliches Erinnern und Erzählen immer gefärbt. Sie wollten keiner der gängigen Narrationen aufsitzen. So ist im Beispiel von Mainz im Vergleich zu Frankfurt und Berlin in den 1968er-Protesten immer wieder von einem Dornröschenschlaf einer im Kern doch provinziellen Großstadt zu lesen. "Das stimmt so nicht", stellt Simon klar. "Es war sicher weniger los, aber es passierte durchaus einiges."

Im Januar 1971 besetzten Studierende das von Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann geführte Publizistik-Institut. Sie protestierten gegen den autoritären Führungsstil und forderten mehr Mitspracherecht. Die Gründerin des Allensbach-Instituts für Demoskopie meldete sich krank. JGU-Rektor Prof. Dr. Peter Schneider hingegen besuchte die Studierenden, um mit ihnen zu reden. "Ein leerer Bauch diskutiert aggressiv, ihr kriegt jetzt erst mal was Gescheites zu essen", meinte er. Es gab Spaghetti für die Protestierenden. Als dann die Gespräche zu nichts führten, ließ er durch den Hausmeister die Heizung des Instituts ausstellen. Das beendete die Aktion.

"Etwa zur selben Zeit rief Adorno in Frankfurt die Polizei, als Studierende sein Institut besetzten", erzählt Dr. Thomas Schneider. Damit leitet er über zu einem Befund, der nach allem kritischen Nachfragen Mainz ganz besonders auszeichnet: "Wir finden in mehreren Bereichen eine Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, miteinander zu reden. In Mainz herrschte eine Atmosphäre des Ausgleichs, während anderswo die Zeichen häufig von vornherein auf Konfrontation standen."

Fastnacht anno 1969

So besuchte auch der damalige Mainzer Oberbürgermeister Jakob "Jockel" Fuchs Studierende im Hungerstreik. Ein Foto zeigt ihn, wie er diskutierend zwischen ihnen auf einer Getränkekiste sitzt. Auch ein Fastnachter nahm sich der Sache der Studenten an. So dichtete Willi Scheu 1969 für die Fernsehsitzung "Mainz bleibt Mainz":

"Universitätsprofessor,
Doktor jur. und Doktor phil.
Der wusst' immer alles besser,
Nur nit selber, was er will.
Wissenschaft hat er getrieben,
Die ihm heut' kein Mensch mehr glaubt.
Seine Zeit war steh'n geblieben,
Der war einfach zu verstaubt.
Der hat viel zu spät begriffen,
Was die Jugend heut' verlangt.
Bis man ihn jetzt ausgepfiffen,
Und dann hat er abgedankt."

Das alles und einiges mehr aus dem Masterprojekt hervorgegangen und im Band "Mainz '68" nachzulesen. Am Ende des Projekts sind sich die Studierenden einig: Es war viel Arbeit. "Man bekommt mehr als bei jeder Hausarbeit aufgezeigt, was man alles falsch machen kann", meint Melanie Mortelé. Sie verfasste einen Artikel zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit an der JGU. "Wir mussten viel und oft umschreiben, aber wir haben eine Menge dabei gelernt."

Mittlerweile musste die 32. Ausgabe der Volkskunde in Rheinland-Pfalz angesichts erhöhter Nachfrage nachgedruckt werden. "Das ist uns in all den Jahrzehnten bisher nur einmal passiert", meint Prof. Dr. Michael Simon und deutet auf den Band vor ihm auf dem Tisch. "Dies hier ist schon wieder eines der letzten Exemplare."