Mathematik in Händen halten

4. Oktober 2017

Die Sammlung Geometrischer Modelle am Institut für Mathematik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) beherbergt verschiedenste Objekte, die Mathematik sicht- und greifbar machen. Mal reicht ein einfaches Stück aus gefaltetem Papier, um die abstrakte Wissenschaft in die Lebenswelt zu holen, mal ist es eine historische Gipsfigur, mal eine moderne Lasergravur oder ein Modell aus dem 3-D-Drucker.

Prof. Dr. Tilman Sauer hält eine weiße Gipskugel in der Hand. Das gute Stück zeigt zwar einige Gebrauchsspuren, doch die verschiedenfarbigen Linien auf der Oberfläche sind noch immer gut zu erkennen. "Die Kugel stammt aus dem 19. Jahrhundert", erklärt Sauer. Ein vergilbtes Schild klebt zwischen den bunten Linien auf der Gipsoberfläche: "Kugelprojection der ebenen Curven 3. Ordnung" ist darauf als knappe Erläuterung zu lesen.

"Die Mathematik gilt vielen Menschen als sehr abstrakt und unzugänglich", sagt Sauer. "Es gibt aber eine lange Tradition, die Dinge zu visualisieren und Modelle herzustellen. Gerade im 19. Jahrhundert war das von besonderer Bedeutung." Der Professor für Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften dreht sich zu seinem Computer und ruft das Faksimile eines historischen "Catalogs mathematischer Modelle" auf. "Hier konnte man eine ganze Reihe solcher Objekte bestellen." Die Gipskugel ist ausgewiesen als Teil der Serie 17N2. Zwölf Mark kostete das Modell mit einem Durchmesser von zwölf Zentimetern.

Gegründet im Jahr 1995

Heute ist die Kugel Teil der Sammlung Geometrischer Objekte am Institut für Mathematik der JGU. Zwei Vitrinen in den Fluren des Instituts präsentieren eine Auswahl von dem, was die Sammlung zu bieten hat. "Im Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät sind weitere Modelle zu sehen", berichtet Sauer. "Aber wir können selbstverständlich immer nur einen kleinen Ausschnitt zeigen."

Die Sammlung Geometrischer Modelle wurde im Jahr 1995 von Prof. Dr. David E. Rowe begründet, Sauers Vorgänger. "Im deutschsprachigen Raum ist es ziemlich einmalig, dass ein solcher Lehrstuhl direkt an einem Institut für Mathematik angesiedelt ist", erzählt Sauer. Über 20 Jahre lang hat Rowe die Sammlung vergrößert und verschiedene Richtungen weiterentwickelt, dann übernahm Sauer unter anderem auch diese Aufgabe von seinem Kollegen.

"Die Sammlung bietet eine sehr schöne Möglichkeit, die Geschichte der Mathematik zu veranschaulichen", so der Mathematiker, während er ein zweites Modell aus einem Karton holt. Er schält ein graziles Stück aus dem Verpackungsmaterial. Es verkörpert eine Clebsche Diagonalfläche, benannt nach dem Göttinger Mathematiker Alfred Clebsch.

Modelle aus dem 3-D-Drucker

Das elegant geschwungene dreidimensionale Objekt repräsentiert eine kubische Fläche, in die sich 27 Geraden einpassen lassen, ohne sich ein einziges Mal zu kreuzen. "Im 19. Jahrhundert gab es vor allem Gipsmodelle und Modelle aus Draht und Fäden. Heute haben wir ganz andere Möglichkeiten. Dieses Modell hier kommt aus dem 3-D-Drucker." Die neue Technik erlaubt die Herstellung extrem feiner und dünnwandiger Objekte, die einer idealen Darstellung mathematischer Sachverhalte näherkommen als die Exemplare aus Gips.

"Außerdem können wir natürlich auf Computeranimationen zurückgreifen." Sauer tippt kurz auf seiner PC-Tastatur und das Faksimile des alten Katalogs weicht einer digitalen Darstellung der Clebschen Diagonalfläche, die sich beliebig drehen und wenden lässt. "Das mag eindrucksvoll sein, aber es ist immer noch etwas ganz anderes, wenn Sie ein solches Objekt direkt in den Händen halten können."

Dr. Oliver Labs, ein ehemaliger Mitarbeiter des Instituts, schuf für die Sammlung rund 80 Modelle mit dem 3-D-Drucker. Dies ist gewissermaßen die moderne Variante des "Catalogs mathematischer Modelle".

Laser- und Origami-Technik

Von Sauers Büro geht es auf den Flur zu einer der Vitrinen. Labs hat rund 20 Objekte per Laser-in-Glas-Gravur hergestellt. Drei davon sind hier vertreten, darunter eine sogenannte Dini-Fläche, die ein wenig wirkt, als hätte jemand mehrere schmale Blütenkelche ineinandergesteckt. Durch die Lasertechnik erscheint diese Figur als Hologramm im klaren Glaswürfel.

Um den Glaswürfel herum geht es bunt zu: Ein Sammelsurium von Objekten lässt die Vielfalt der Sammlung erahnen. Sauer greift eine gefaltete Papierspirale heraus. "Ende des 19. Jahrhunderts gab es sogar Lehrbücher zum Falten mathematischer Modelle." Eine Art Mathematik-Origami kam in Mode, die heute in der Vitrine durch moderne Faltversuche vertreten ist. "Es entspricht im Grunde immer einem Spiegeln, wenn ich das Blatt falte." Und Spiegelungen spielen eine wichtige Rolle in der Geometrie.

Auch die fünf Platonischen Körper sind in der Vitrine vertreten: der Tetraeder mit seinen vier Flächen aus Dreiecken, der Hexaeder, also der klassische sechsseitige Würfel, sowie Oktaeder, Dodekaeder und Isokaeder mit acht, zwölf und 20 Flächen. "Sie tauchen bereits in Euklids 'Elementen' auf. Das Werk endet mit dem Beweis, dass es überhaupt nur fünf Körper mit dieser großen Symmetrie geben kann."

Die Sammlung zeigt die Platonischen Körper mit Mustern des niederländischen Künstlers Maurits Cornelis Escher: Auf dem 20-Seiter tummeln sich Schmetterlinge in Hellblau und Blassrot, in zartem Grün und Gelb. Daneben liegt der 20-Seiter in Form eines Würfels für Gesellschaftsspiele. Die Spieleindustrie hat in den letzten Jahrzehnten die Platonischen Körper für sich entdeckt. Nun lässt sich sogar eine 20 würfeln.

Sammlung erweitern

Selbst Sauer findet noch Überraschendes zwischen den gewichtigeren Objekten seiner Sammlung: Ein ungenannter Künstler hat aus einem Papierschirmchen, Pappe, Muscheln und Sand eine kleine Insel gebastelt, die zum Ausspannen einlädt. Davor steht ein Schild: "Modell für vorlesungsfreie Zeit". Offensichtlich hat auch Humor seinen Platz in der Mathematik.

Fast alle Modelle – außer diesem letzten vielleicht – finden Verwendung in den Vorlesungen und Seminaren am Institut. Daneben hält die Sammlung noch eine Reihe robusterer Objekte bereit, die auch an Schulen ausgeliehen werden. So geht Mathematik zum Anfassen von der Universität aus sogar auf Tour.

"Wir können mit unserer Sammlung das Abstrakte in die erfahrbare Lebenswelt holen. Das ist ihre besondere Qualität", betont Sauer. "Ich werde diese Sammlung weiter pflegen – und vielleicht kann ich sie in Zukunft sogar ergänzen durch die Darstellung alter Recheninstrumente, alter Rechenmittel und Rechenverfahren." Damit käme noch mal eine neue Facette in diese Sammlung, die jetzt schon durch ihre Vielfalt besticht.