Modell für das Stadtklima

16. November 2018

Mit ENVI-met lässt sich das Mikroklima einer Stadt auf den Quadratmeter genau errechnen, Auswirkungen von Bauvorhaben, Bodenversiegelungen oder Parkanlagen lassen sich exakt vorhersagen. Seit 25 Jahren arbeitet Prof. Dr. Michael Bruse vom Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) an dieser Software. Nach und nach bezog der Geoinformatiker immer mehr Faktoren ein und gestaltete die 3-D-Simulationen zunehmend komplexer. Mittlerweile findet ENVI-met weltweit Anwendung.

Die Poster im Gang vor seinem Büro erzählen eine Erfolgsgeschichte. "Dies hier ist eine unserer früheren Untersuchungen", erklärt Prof. Dr. Michael Bruse. "Damals beschränkten wir uns noch auf ein kleines Gebiet und die Auflösung war noch nicht so genau." Zu sehen ist ein Plan von einigen Straßenzügen im australischen Sydney. Unzählige Pfeile stehen für die Luftströmungen zwischen den Häusern. Ein späteres Projekt beschäftigt sich mit Baumpflanzungen in Kiel. Dort kann schon mal eine steife Brise das Grün umknicken. Wohin also sollen die Stadtplaner ihre Pflanzen setzen? Ein drittes Plakat zeigt die Metropole São Paulo. Diesmal geht es darum, wie sich enge Bebauung auf das Klima auswirkt. Wie sehr heizt sich die Metropole auf?

"Seit meinem zweiten Semester arbeite ich ohne große Unterbrechung an der Entwicklung meiner Software", erzählt Bruse. "Das ist schon ein großer Luxus." Als Student an der Ruhr-Universität Bochum untersuchte er bereits die Auswirkung von Schattenwürfen auf das Klima, 1999 schrieb er dort seine Abschlussarbeit zu Oberflächentemperaturen und vier Jahre später lieferte er mit seiner Dissertation eine erste Version des Klimamodells. In Bochum wurde Bruse zudem habilitiert, bevor er 2007 dem Ruf auf eine Professur für Geoinformatik ans Geographische Institut der JGU folgte – im Gepäck sein Langzeitprojekt, die Software ENVI-met.

15.000 Nutzer, 250 Dissertationen

Das dreidimensionale Modell ermöglicht genaue Prognosen, welche Bauvorhaben welche Auswirkungen auf das Stadtklima haben. "Unter anderem setzen wir es für die Dubai Expo 2020 ein und es wird für das Projekt 'Cooling Singapur' genutzt." Dort herrschen das gesamte Jahr über Temperaturen um die 28 Grad und das bei tropisch-feuchtem Klima. Eine Kühlung wird benötigt.

"Wir können also gar nicht alle Projekte im Auge behalten, die mit ENVI-met arbeiten. Wir haben rund 15.000 registrierte Nutzer, etwa 250 Doktorarbeiten sind entstanden. Die Software ist frei verfügbar, das war uns wichtig. Jeder kann sie auf einem normalen Computer anwenden. So können auch Regionen, in denen die Mittel sehr knapp sind, von dem Modell profitieren. Bangladesch ist ein gutes Beispiel dafür. Nur wer eine sehr ausführliche Version wünscht, zahlt dafür."

Sicher können Bruse und seine Environmental Modelling Group (EMG) am Geographischen Institut nicht alles genau verfolgen, dennoch sind sie weltweit vernetzt. "In Brasilien geschieht viel mit unserer Software, von dort kommen Austauschstudierende nach Mainz. Auch mit China haben wir Kontakt, es gibt ebenfalls einen Austausch. Dort ist man sehr bestrebt, Prognosen zum Stadtklima einzubeziehen. Viele denken, China kopiert einfach nur billig unsere Sachen, aber das ist ein Klischee. Dort herrschen hohe Standards und es ist faszinierend zu beobachten, wie sich zum Beispiel ein Bauprojekt für zehn Millionen Menschen entwickelt."

Stadtplanung und Hitzestress

Doch wie funktioniert ENVI-met? "Wir brauchen natürlich Umgebungsdaten: einfache Informationen über Gebäude vom Katasteramt, topografische Angaben zum Gelände, Informationen über Begrünung, etwa über Bäume. Wir wollen auch wissen, welche Materialien verwendet wurden: die eine Straße heizt sich stark auf, die andere weniger, helle Fassaden strahlen Wärme ab, dunkle schlucken sie. Außerdem nutzen wir Daten zu Luftströmungen. Aus alledem lässt sich das Mikroklima recht gut ableiten." In speziellen Fällen werden sogar physiologische Daten von Stadtbewohnern integriert: Über Schweißproduktion und Blutregulierung lässt sich der Hitzestress ermitteln. "Wir nutzen viele wissenschaftliche Disziplinen für unsere Forschung."

Wer Geografie an der JGU studiert, arbeitet mit dem Modell, mal im kleinen, mal im größeren Stil. "Bei einer typischen Doktorarbeit geht es im ersten Jahr darum, ein Konzept zu erstellen, im zweiten Jahr folgen die Datenerhebung und Messungen, im dritten werden die Daten aufbereitet", skizziert Bruse kurz das Prozedere.

Im Grunde ist es keine neue Idee, das Klima in die Stadtplanung einzubeziehen – im Gegenteil: "Bereits im alten Rom wurde nach mikroklimatischen Gesichtspunkten gebaut und auch in der Arabischen Welt spielte das eine große Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg achtete man in Kopenhagen ganz besonders darauf." Dort blieben Naherholungsgebiete bestehen, die sich bis in den Stadtkern erstreckten. "Die Holländer zum Beispiel machen viel mit Wasser. Bei uns allerdings ist das Bewusstsein für solche Aspekte weitgehend verloren gegangen. In den 1980er-Jahren galt das Gebäude als autarker Mechanismus, der geheizt oder heruntergekühlt werden muss. Was drum herum passiert, interessierte kaum jemanden."

Verbundforschung zu grüner Haut

Das hat sich mittlerweile geändert: Diskussionen um den Klimawandel, Umweltverschmutzung, Feinstaub und Emissionen aller Art rückten auch das Stadtklima wieder in den Blick. Bei praktisch jedem größeren Projekt spielt es eine Rolle. "Allerdings ist nirgends festgelegt, welche Rolle es genau spielen soll, wie ein entsprechendes Gutachten aussehen muss oder inwieweit es zu berücksichtigen ist. Für Abgase gibt es Grenzwerte, für Temperaturen nicht."

ENVI-met ist aktueller denn je und immer neue Aspekte tun sich auf. "Derzeit sind Fassaden- und Dachbegrünung ein großes Thema", berichtet Bruse. "Wir haben in den Städten keinen Platz mehr, da ist Grün ein wichtiges Tool, um Energie loszuwerden. Gerade arbeiten wir in einem Verbundprojekt an einem modularen System: Wir entwickeln für Hausfassaden Pflanzenkacheln, die sich einfach ein- und ausklinken lassen." "GreenSkin" nennt sich das Projekt, das wie seine beiden Vorgänger "proGreenCity" und "Green4Cities" von der Europäischen Union gefördert wird.

Das Interesse bleibt, Bruse und sein Team werden weiter an ENVI-met arbeiten. Eigentlich müsste dieses Mikroklimamodell in aller Munde sein, gerade nach dem ungewöhnlich heißen und trockenen Sommer. Wetter und Klima machen schließlich Schlagzeilen. Doch da winkt Bruse ab: "Es gibt immer mal Artikel, aber wenn so ein Sommer dann vorbei ist, flaut es auch schnell wieder ab." Der Geoinformatiker allerdings bleibt am Ball: Seit 25 Jahren schraubt er an seinem Modell. Ein Ende ist kaum abzusehen.