28. September 2012
Dr. Irene Berti ist sich sicher: "Die Echos der antiken Welt finden sich überall, denn die moderne Kultur klaut viel. Die Vergangenheit ist aktuell." Genau dies machten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsverbunds IMAGINES zum Thema: Bei der Konferenz "Magic and the Supernatural from the Ancient World" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ging es um Zauberinnen und Zombies, um Fabelwesen und um eine Superheldin.
Harry Potter mustert fasziniert diesen merkwürdigen Vogel in Professor Dumbledores Büro. Das Gefieder schimmert rotgolden, der gebogene Schnabel wirkt nicht gerade ungefährlich. Als Harry sich nähert, krächzt das Tier auf, dann vergeht es in einem Feuerball. "Fawkes ist ein Phönix, Harry", beruhigt Dumbledore seinen Schüler und weist auf ein Häufchen Asche. Dort regt sich etwas. Ein graues Küken streckt seinen Kopf empor ...
"Ich habe Harry Potter nicht ganz gelesen", gibt Juniorprofessor Dr. Filippo Carlà vom Arbeitsbereich Alte Geschichte am Historischen Seminar der JGU zu. "Irgendwann wurde es mir doch langweilig."
Harry Potter und die Antike
Gemeinsam mit Dr. Irene Berti vom Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat Carlà die Konferenz IMAGINES III: "Magic and the Supernatural from the Ancient World" nach Mainz geholt – und dort darf J. K. Rowlings höchst erfolgreicher Zyklus um den Zauberschüler Harry nicht unerwähnt bleiben. "Die Referentin ist ein Fan", verspricht Carlà.
"Fantasyromane und ihre Verfilmungen sind im 21. Jahrhundert beliebt wie nie zuvor", erklärt Dr. Dagmar Hofmann vom Historischen Institut der Universität zu Köln. Das beweise insbesondere der riesige Erfolg der Harry-Potter-Heptalogie, ob gedruckt oder auf der Leinwand.
"In Rowlings Romanen spielt Mythologie eine wichtige Rolle, sie ist allgegenwärtig. Nahezu alle Namen entstammen ihr." Es wimmele nur so von mythischen Wesen. "Fast 80 Arten lassen sich finden, einige mit zahlreichen Unterarten." Doch genau wie verwendet Rowling diese Wesen, die sehr häufig der Antike entstammen? Was macht sie aus Zentauren, Werwölfen oder dem Phönix?
Neue Facetten für alte Mythen
Herodot beschreibt den Phönix als heiligen Vogel der Ägypter. Das Tier gleicht einem Adler. Ovid lobt die Farbenpracht des Phönix. Bei ihm findet bereits die Fähigkeit der Wandlung und der Selbsterneuerung Erwähnung. Römische Kaiser prägen den Phönix auf ihre Münzen. Hadrian etwa betont damit die Dauerhaftigkeit seiner Herrschaft. Und im Christentum wird der Phönix zum Symbol der Auferstehung, der Ewigkeit.
"Rowling fügt den alten Fähigkeiten neue hinzu, doch die Anlehnung an die mythische Figur bleibt immer deutlich", sagt Hofmann. Der Phönix wird zum Retter, seine Tränen heilen. Der Werwolf in Gestalt des Lehrers Remus Lupin wird zur Metapher für den ausgegrenzten Menschen, den H.I.V.-Positiven.
Der Forschungsverbund "IMAGINES – Antiquity in the Visual and Performing Arts" wurde im Jahr 2007 ins Leben gerufen. Im selben Jahr fand die erste Konferenz im spanischen La Rioja statt, 2010 folgte die zweite Konferenz im englischen Bristol. "Wir sind eine dynamische Gruppe, die immer aktuelle Themen bieten kann", sagt Carlà. "Wir wollen nicht, dass IMAGINES zu einem geschlossenen Club wird, wo sich immer dieselben Leute treffen. Uns geht es um die Erweiterung durch immer neue Forschungsansätze, neue Aspekte."
Riesenprogramm trotz knapper Kassen
"Wir verbinden die Forschung über die Rezeption mit den Künstlern", ergänzt Berti. Die Künstler sollen dabei auch zu Wort kommen. So berichtet Stephan Seidel, Hausautor des Mainzer Staatstheaters, unter dem Titel "Phädra-Daedalus-etcetera" von seiner Beschäftigung mit Mythen.
Das erste Treffen der Konferenzteilnehmer im Philosophicum auf dem JGU-Campus fällt herzlich aus. Kleine Mitbringsel wechseln die Besitzer. Jeder darf teilnehmen, eine Anmeldung ist nicht nötig. Die Initiative zu IMAGINES ging von jungen Wissenschaftlern aus. Das Geld ist jedes Mal knapp, trotzdem haben Carlà und Berti auch für Mainz ein riesiges Programm vorbereitet.
"Es ist schwierig, Sponsoren zu finden", so Carlà. "Aber die Johannes Gutenberg-Universität Mainz war großzügig." Die Zuhörer erwartet ein Programm mit insgesamt 20 Vorträgen. Sie werden sich auf die Spuren von Superheldin Wonder Woman begeben, deren Wurzeln bis zu den Amazonen reichen, sie werden von antiken Verfluchungsinschriften erfahren und von verschiedensten Verfilmungen, die aus der Antike schöpfen.
Zwei schräge Zauberfrauen
"Im Zentrum stehen bei uns die visuellen und performativen Künste", erzählt Carlà. Auch der Comic darf eine Rolle spielen. Berührungsängste gibt es nicht. "Wir haben es immer mit mindestens drei Ebenen zu tun, das macht die Antiken-Rezeption zu einem so spannenden Forschungsfeld." Da ist zuerst der antike Ursprung, hinzu kommt die Verarbeitung im modernen Medium. "Und dann wir als Zuschauer. Diese Ebene sollten wir nicht unterschätzen."
Prof. Dr. Christine Walde vom Seminar für Klassische Philologie der JGU widmet sich zwei fast vergessenen Figuren. Sie beleuchtet "Canidia und Erichtho und ihr nachantikes Leben in Bildern". "Die beiden etwas schrägen Zauberfrauen", nennt die Professorin das Duo. Anders als Circe oder Medea genießen sie ein sehr beschränktes Nachleben. Aber warum?
Horaz schuf im ersten Jahrhundert v. Chr. die Canidia. "Sie ist eine bösartige alternde Frau, die sich per Liebeszauber an einem Mann rächen will." Im ersten Jahrhundert n. Chr. rief der Dichter Lukan die thessalische Hexe Erichtho ins Leben. "Sie ist blass, hässlich, hat eine Neigung zu greller Kleidung und ihr sind Schlangen ins Haar geflochten. Sie lebt abseits der Städte an Todesstraßen. Sie ist eine Außenseiterin im Hexenkollektiv."
Thessalische Hexen im Internet
Auch bezüglich ihrer Rezeption blieben Canidia und Erichtho Randfiguren. Canidia taucht fast gar nicht mehr auf. Ein Gemälde von Johann Erdmann Hummel aus dem Jahr 1848 ist eine seltene Ausnahme. Erichtho ist etwas häufiger porträtiert worden. Zudem feiert sie kurze Gastspiele in Dantes "Göttlicher Komödie" und Goethes "Faust II".
"Beiden fehlt eine klare Ikonographie", stellt Walde fest. "Sie haben auch keine ausdifferenzierten Biografien, nicht diese Verästelung der Lebensläufe wie Circe und Medea."
Nur in der wilden Welt des Internet, da finden sich die beiden plötzlich wieder, allerdings bis zur Unkenntlichkeit uminterpretiert. Unter anderem hat sich die Gothic-Szene ihrer angenommen. Erichtho etwa ist mal geheimnisvolle Schöne, dann wieder trashige Gruselgestalt oder Pate für ein gruftiges Parfüm: "Freshly Dug Grave" steht auf der Flasche.
Erfolgreiche dritte Konferenz
Die Welt von IMAGINES ist voller Bilder und ungewöhnlicher Einblicke. Die Referenten spannten auch bei der dritten Konferenz ungewöhnliche Bögen über Fächer und Genres hinweg, immer der Magie und dem Übersinnlichen auf der Spur.
Juniorprof. Dr. Filippo Carlà ist denn auch sehr zufrieden: "Die Atmosphäre war einzigartig, sehr locker und vertraut – wie bei allen IMAGINES-Konferenzen. Mich hat besonders gefreut, dass so viele Studierende teilgenommen haben." Das sei nicht unbedingt üblich. "Und wir haben wieder neue Ansätze entwickelt. Der Vortrag von Professorin Walde zum Beispiel war herausragend."
Im Frühjahr 2015 soll es dann zur vierten Konferenz ins portugiesische Faro gehen. "Ganz sicher ist das zwar noch nicht", meint Carlà, "aber wir arbeiten daran."