3. Januar 2018
Der digitalen Musikedition gehört die Zukunft. Sie ermöglicht eine tiefere, detailliertere und beziehungsreichere Sicht auf musikalische Werke. Mit Stefanie Acquavella-Rauch kam Anfang 2016 eine Spezialistin auf diesem Gebiet nach Mainz. Die Musikwissenschaftlerin wurde auf die neu geschaffene Juniorprofessur für digitale Musikedition an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz berufen.
In ihrer Dissertation beschäftigte sich Juniorprofessorin Dr. Stefanie Acquavella-Rauch mit der Arbeitsweise Arnold Schönbergs, mit der Genese seines Werks. "Damals musste ich noch mühsam mit Worten erklären, wie sich seine Kompositionen entwickelt haben: dass er hier einen Notenkopf ergänzt, dort einen Akzent anders gesetzt hat", erzählt sie. "Ich habe mir so gewünscht, dass es auch anders geht. Und jetzt ist das mit der digitalen Musikedition tatsächlich möglich. Ich muss nicht mehr mühsam beschreiben, was sich verändert. Ich kann es zeigen. Das ist ein riesiger Fortschritt."
Die Musikwissenschaftlerin klappt ihr Notebook auf. Sie will demonstrieren, worum es geht, nicht nur davon erzählen. Acquavella-Rauch ruft die Seite zu Carl Louis Bargheer auf, eine digitale Edition, an der sie über Jahre hinweg als Akademische Oberrätin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold gearbeitet hat. Die Website mit Noten, Hörbeispielen, Hintergrundinformationen und einigem mehr ist öffentlich zugänglich. Acquavella-Rauch öffnet Tab für Tab. Ihr Notebook kommt so schnell gar nicht nach. "Das lädt jetzt einen Moment", entschuldigt sie sich mit einem Lächeln.
Universität und Akademie
Im Januar 2016 wurde Acquavella-Rauch auf die frisch eingerichtete Akademie-Juniorprofessur für digitale Musikedition an der JGU und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz berufen. Universität und Akademie hatten sich zusammengetan, um diesem jungen Forschungsgebiet mehr Gewicht in Mainz zu verschaffen. Zudem wollen beide Institutionen ihre Zusammenarbeit in Forschung und Lehre intensivieren. Die Juniorprofessur ist dabei eine wichtige Facette.
"Ich habe ein Büro an der Universität und eines an der Akademie", erzählt Acquavella-Rauch. Das mag erst mal nach Luxus klingen, ist aber auch eine Herausforderung. An der Akademie ist die Wissenschaftlerin eingebunden in die Edition und Erforschung sämtlicher Werke des Komponisten Christoph Willibald Gluck und verantwortlich für die Herausgabe der Allgemeinen Dokumente. Das ambitionierte Langzeitvorhaben läuft seit den 1960er-Jahren. An der JGU wiederum gibt die Juniorprofessorin im Zuge des neu eingerichteten Masterstudiengangs "Digitale Methodik in den Geistes- und Kulturwissenschaften" ihr Know-how an die Studierenden weiter.
"Die digitale Musikedition steckt noch in den Kinderschuhen. Uns fehlen die Fachleute, die das nötige Wissen sowohl in der Musikwissenschaft als auch in der Informatik mitbringen. Bisher wurden sie institutionell nur an der Universität Paderborn ausgebildet. Mit dem neuen Studiengang in Mainz haben wir nun einen zweiten Standort dafür aufgemacht. Die Nachfrage ist groß in diesem Bereich. Wer die Qualifikation mitbringt, kann sich später seinen Arbeitsplatz aussuchen."
Fiedellieder neu entdeckt
Mittlerweile hat das Notebook alle Seiten geladen, Acquavella-Rauch wendet sich der digitalen Edition zu. Bargheer ist nicht sonderlich bekannt. Ab 1864 wirkte er als Hofkapellmeister in Detmold. Er schrieb eine Reihe von Fiedelliedern für Bariton, Violine und Klavier. Acquavella-Rauch deutet auf ein Faksimile eines alten Notenblatts mit einem der Lieder. Ein Mausklick und an mehreren Stellen erscheinen bunte Marker. Angeklickt zeigen sie alternative Versionen: erste Niederschriften, Urfassungen, Revisionen. Hier kann jeder den Schaffensprozess Bargheers nachvollziehen.
Doch das ist noch nicht alles. Auch zu den Liedtexten findet sich einiges, Vorlage waren oft Gedichte Theodor Storms. Das lässt sich nun digital zurückverfolgen. Im Fall eines Fiedellieds diente das Märchen "Das Sonnenkind" als Basis. Zeitgenössische Illustrationen und aktuelle Anmerkungen ergänzen die Seiten. Im Märchen ist zum Beispiel die Rede von einem kleinen Mann in altfränkischer Tracht. "Da lesen wir heute einfach drüber, ohne uns viel dabei zu denken", bemerkt Acquavella-Rauch. "Aber die altfränkische Tracht war damals ein politisches Statement. Sie galt als Bekenntnis zur nationalen Befreiungsbewegung."
Als Nächstes öffnet sie eine Rubrik mit Hörbeispielen, erstellt an der Musikhochschule Detmold. "Wir haben dort Musiker gefragt, ob sie Lust haben, einige von Bargheers Werken aufzunehmen. So können die Besucher der Webseite hören, dass die Fiedellieder durchaus eine gewisse Qualität haben."
Operette als Gesellschaftskritik
In der digitalen Bargheer-Edition ist so ziemlich alles mit allem verknüpft. Diesem komplexen Netz von Beziehungen kann der Besucher auf verschiedensten Pfaden online folgen. Der hohe Verknüpfungsgrad führt allerdings auch dazu, dass es schon mal dauern kann, bis ein neuer Tab geladen ist. "Je schneller die Internetverbindung, umso angenehmer", so Acquavella-Rauch.
Die Musikwissenschaftlerin interessiert sich für Komponistinnen und Komponisten, Musikerinnen und Musiker, die sich am Rande des Vergessens bewegen, für Werke, deren Bedeutung heute oft verkannt wird. Im Moment arbeitet sie an der digitalen Edition der Operette Der Vogelhändler von Carl Zeller, die 1891 in Wien aufgeführt wurde.
"In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde das Genre der Operette in Deutschland glattgebügelt. Sie gilt seitdem als flache Unterhaltung, als Volkstümelei. Ich will zeigen, dass mehr dahintersteckt. Damals verstand man Operetten als Gesellschaftskritik, in manchem dem heutigen Kabarett ähnlich." Acquavella-Rauch greift ein Detail heraus: "Der Vogelhändler spricht im Original einen Tiroler Akzent, damit wird er als Hinterwäldler charakterisiert. Einige seiner Passagen sollten in einer Art Sprechgesang präsentiert werden. Ein Sänger, der klassisch für die Oper ausgebildet ist, wird diese Figur ganz anders interpretieren. Dadurch geht etwas verloren. Die Operettendarstellerinnen und -darsteller damals waren Sänger, Schauspieler, Tänzer und Komödianten in einem. Das prägte die Aufführungen."
Neue Medien, alte Musikverlage
Digitale Editionen eröffnen Möglichkeiten. Sie schaffen eine tiefere, detailliertere und beziehungsreichere Sicht auf musikalische Werke, sie sind aber auch eine Herausforderung. "Das Ziel der Musikwissenschaft ist es, solche Editionen ins Netz zu stellen", erklärt Acquavella-Rauch. Doch in den Musikverlagen ist man in dieser Hinsicht auch skeptisch: Verderben solche Angebote nicht das Geschäft? Wer wird noch Partituren leihen, wer wird noch teure Leinenbände herkömmlicher Editionen kaufen, wenn solche modernen, interaktiven Editionen im Netz zu haben sind?
"Wir haben vor Kurzem bei der jährlichen Konferenz der Gesellschaft für Musikforschung mit Editoren und Verlagsleuten einen runden Tisch veranstaltet. Da wurde viel diskutiert: Welche Bausteine sollen frei verfügbar sein, welche nicht?" Acquavella-Rauch kann sich vorstellen, dass moderne Editionen auch neue Märkte erschließen. "Einige Verlage suchen schon nach neuen Wegen, andere sind eher traditionell eingestellt. Sie wollen sich nicht bewegen. Aber wir sind zuversichtlich."
Ihre Position als Wissenschaftlerin ist klar: Der digitalen Musikedition gehört die Zukunft. Sie kann damit so viel mehr zeigen, kann neugierig machen auf Vergessenes, sie kann ein breiteres Publikum interessieren. "Ich möchte, dass diese Editionen irgendwann für jeden frei verfügbar sind", sagt Acquavella-Rauch und fährt ihr Notebook herunter.