Nicht nur Raubkunst!

17. April 2019

Öffentliche Sammlungen enthalten viele Exponate, die aus ethischen Gründen als sensibel eingestuft werden müssen. Lange jedoch haben Museen und Universitäten dieser Tatsache nicht ins Auge gesehen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist das Bewusstsein gewachsen, dass sich etwas ändern muss. Dr. Anna-Maria Brandstetter und Dr. Vera Hierholzer von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben nun ein Buch vorgelegt, das sich dem Thema aus verschiedensten Blickwinkeln nähert.

Der prächtige, überlebensgroße Bronzekopf schmückte im 19. Jahrhundert einen Altar im Königspalast von Benin. Er war zu Ehren eines verstorbenen Herrschers aufgestellt worden. 1897 überfielen britische Kolonialtruppen den Stadtstaat im heutigen Nigeria und plünderten den Palast. Tausende von wertvollen Messing- und Elfenbeinarbeiten fielen ihnen in die Hände. Einiges ging ans British Museum, die meisten Gegenstände jedoch teilten die Mitglieder der Militärexpedition unter sich auf. Der Bronzekopf wurde über eine Zwischenstation an den Afrika-Reisenden Max Schoeller weiterverkauft, der ihn 1898 über ein Tauschgeschäft dem Stuttgarter Linden-Museum überließ. 1971 landete der Kopf dann, wiederum über einen Tausch, in Mainz. Heute blickt er jedem entgegen, der die Ethnografische Studiensammlung des Instituts für Ethnologie und Afrikastudien der JGU, mit ihren etwa 3.000 Exponaten aus Afrika und Australien, aus Ozeanien und Südamerika, betritt.

Schwieriges Thema offen angehen

"Dies ist der Kopf, an dem sich alles entzündete", erzählt die Historikerin Dr. Vera Hierholzer, Koordinatorin aller Sammlungen der JGU. Bei einer Veranstaltungsreihe im Jahr 2014 wurden diese Sammlungen erstmals ausführlicher vorgestellt. "Gerade hatte der Fall des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt Schlagzeilen gemacht." Unter den Kunstwerken, die er von seinem Vater geerbt hatte, befanden sich Stücke, die in der Nazi-Zeit auf zwielichtigem Wege den Besitzer gewechselt hatten. "Es wurde viel diskutiert, was damit passieren sollte." In Mainz eröffnete Dr. Anna-Maria Brandstetter, Kuratorin der Ethnografischen Sammlung, die Diskussion. "Sie erklärte, dass auch wir Raubkunst haben. Auch in unseren Sammlungen finden sich viele problematische Dinge," erinnert sich Hierholzer. Damit brachte Brandstetter das Schicksal des Bronzekopfs aufs Tapet.

Mit dieser Episode leiten Hierholzer und Brandstetter den Band "Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen" ein, den sie jüngst gemeinsam herausgegeben haben. Damit hat auch ein Prozess begonnen, der nicht nur die Sammlungen der JGU betrifft: "Wir führten in der Folge Gespräche, was konkret passieren soll", erzählt Brandstetter. "Wir setzten uns unter anderem mit Dr. Andreas Brandtner, dem damaligen Direktor der Universitätsbibliothek Mainz, der die zentrale Koordinierung der Sammlungen initiiert hatte, zusammen. Wir waren uns schnell einig, dass wir dieses Thema offen angehen wollen." Es entstand die Idee für eine Tagung.

Bis dahin wurde die Frage nach der Provenienz, der Herkunft von Exponaten, vor allem innerhalb bestimmter Disziplinen oder Institutionen und in Hinblick auf eine Einzelproblematik gestellt: Beschlagnahmte Kunstwerke aus der NS-Zeit rückten zuerst ins Blickfeld. "Wir beschlossen, das Ganze noch ein bisschen weiter zu denken", sagt Hierholzer. "Es gibt schließlich noch viele andere sensible Objekte, insbesondere in den Universitätssammlungen.“ Häufig spielen koloniale Kontexte wie beim Bronzekopf aus Benin eine Rolle. In vielen Sammlungen finden sich zudem archäologische Artefakte, die ihre Herkunftsländer unter zweifelhaften Bedingungen verlassen haben. Sterbliche Überreste von Angehörigen der Aborigines kamen jüngst wieder in die Schlagzeilen, als vereinbart wurde, Schädel aus dem Linden-Museum zurück nach Australien zu bringen

Netzwerk zur Provenienzforschung

All diese Stränge brachte die Tagung "Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen" 2016 an der JGU zusammen. "Es war sehr spannend, über den Tellerrand der Disziplinen hinweg zu schauen", sagt Brandstetter. "Aus unserem Treffen hat sich ein sehr aktives Netzwerk entwickelt." Die Museumsdirektorin kam mit dem Paläontologen ins Gespräch, der Archäologe mit der Kunsthistorikerin, die Kuratorin mit dem Biologen. "Es stellte sich heraus, dass die großen Fragen sehr ähnlich sind: Wie präsentieren wir ein sensibles Objekt, wie bewahren wir es auf? Wie gehen wir mit Rückgabeforderungen um und wie mit den Menschen, denen Unrecht geschehen ist?"

Gefördert von der VolkswagenStiftung brachten Brandstetter und Hierholzer das Buch zur Tagung heraus, das nun vorliegt. "Die großzügige Unterstützung erlaubte es uns, den Band nicht nur in gebundener Form, sondern auch als Open-Access-Version, also kostenlos zugänglich, zu veröffentlichen", so Hierholzer.

"Als die Diskussion um Provenienzen erstmals so richtig hochkochte, ging bei vielen die Angst um, dass sie nun viele Dinge verlieren würden, dass das Ende so mancher Sammlung bevorstünde", erzählt Brandstetter. "Tatsächlich aber ist die Debatte ein großer Gewinn. Es gibt zum Beispiel inzwischen eine Benin-Dialoggruppe, in der sowohl Vertreter des Königshauses Benin, des Bundesstaates Edo und des Staates Nigeria als auch Museumsleiterinnen und -leiter aus Nigeria und Europa sitzen. In unseren Gesprächen dort geht es viel um die Rückgabe kultureller Artefakte, aber auch um die Anerkennung kolonialer Verantwortung. Mit der Anerkennung von Unrecht könnte vielleicht ein Prozess der Heilung beginnen. Wir nehmen Kontakt mit Menschen auf, entwickeln neue Formen des Austauschs und entdecken verborgene Zusammenhänge. Das ist der Anfang von Geschichten, die wir noch gar nicht kennen, nicht das Ende unserer Sammlungen. Hier eröffnet sich eine Welt neuer Beziehungen und neuer Einsichten. Das ist ein großer Gewinn."