19. Mai 2022
Laut einer aktuellen Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung können nur 72 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler so gut lesen, dass sie auf einer weiterführenden Schule keine Schwierigkeiten haben, im Unterricht mitzukommen. Prof. Dr. Gerhard Lauer und Dr. Anke Vogel von der Abteilung Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) forschen zu den Gründen und entwickeln Projekte, in denen die Lesekompetenz aktiv gefördert wird.
Im Jahr 2000 kam der PISA-Schock. Die erste internationale Schulleistungsstudie der OECD zeigte, dass die Lesekompetenz der deutschen Schülerinnen und Schüler bei weitem nicht so gut war wie vermutet. Auch die Ergebnisse in den Kategorien Mathematik und Naturwissenschaften lagen unterhalb des Durchschnitts der 31 untersuchten Länder. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern gab es in Deutschland vor der PISA-Studie keine Erfassung solcher Zahlen. Daher waren Schock und Sorge groß – das deutsche Bildungssystem genoss bis dato einen guten Ruf.
Hat sich seitdem etwas verändert? "Einiges", sagt Dr. Anke Vogel, seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Buchwissenschaft am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der JGU. "Die Reformen im Bildungssystem haben Wirkung gezeigt. Die Wichtigkeit der Thematik ist jetzt stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein, und einiges hat sich in die richtige Richtung entwickelt. Allerdings kam dann Corona. 2016 lag die Quote derer, die Lesekompetenzstufe drei erreicht haben – die also dazu in der Lage waren, verstreute Informationen miteinander zu verknüpfen – noch bei 78 Prozent, jetzt sind wir bei 72." Zwei Jahre Homeschooling, Wechselunterricht und Quarantäne-Phasen haben den Aufwärtstrend gestoppt: "Wir gehen davon aus, dass die Kinder ein halbes Jahr länger beschult werden müssten, um auf dasselbe Niveau wie vor der Pandemie zu kommen", ergänzt Prof. Dr. Gerhard Lauer. "Ohnehin schon benachteiligte Schülerinnen und Schüler, haben natürlich besonders stark unter Corona gelitten."
Interdisziplinäre Leseforschung
Lauer ist noch nicht lange in Mainz, erst im Herbst 2021 hat er die Professur für Buchwissenschaft an der JGU angetreten. Sein Büro ist dementsprechend noch recht karg ausgestattet. Ein paar Bilder hängen an der Wand – sie zeigen Thomas Mann zwischen anderen bekannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Eine große leere Tafel mit der Aufschrift "Arbeitsbereiche" wartet darauf, beschrieben zu werden: Lauer will die Mainzer Buchwissenschaft neu ausrichten, will Brücken bauen zwischen verschiedenen Disziplinen und die Digitalisierung voranbringen. Er und Vogel pflegen Kontakte zu Medienpsychologinnen, Medizinern, Neurologinnen und Informatikern – gemeinsam arbeiten sie an Forschungsprojekten zu Lesekompetenz und -verhalten.
Einen besonderen Fokus legt Lauer darauf, den technischen Fortschritt für die eigene Forschung zu nutzen: Von Eye-Tracking-Projekten, die das Leseverhalten untersuchen sollen, über eine App, in die Eltern und Kinder eintragen können, wie viel und wie oft sie lesen, bis hin zu einem DFG-Projekt, bei dem mithilfe von Künstlicher Intelligenz der emotionale Wert von Texten erkannt werden soll – schon jetzt hat Lauer viele Eisen im Feuer.
Auch an anderen deutschen Universitäten profitieren Forschende von den neuen Möglichkeiten. Kinderbücher werden auf die Genderthematik hin untersucht, sei es anhand einer automatischen Farbanalyse oder durch eine automatisierte Überprüfung der Wortwahl. Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels, das seit 1834 erscheint, wurde digitalisiert und wird jetzt analysiert. Hier lassen sich historische Entwicklungen des deutschen Buchhandels nachvollziehen. "Aber so sehr wir von der Digitalisierung profitieren, so stellt sie uns doch vor neue Herausforderungen: Für viele Fragestellungen gibt es schlichtweg noch keine etablierten Methoden, wir fangen bei Null an", bemerkt Lauer. "Es tauchen auch ganz neue Forschungsgebiete auf: Phänomene wie Medienübergänge – also beispielsweise das Hin- und Herwechseln zwischen einem gedruckten Text und einer Social-Media-Plattform oder einem Hörbuch – sind kaum erforscht", sagt Vogel.
Mainzer Leseförderung
"Das Klagen über den Niedergang des Lesens ist sehr viel lauter als der Wille, eine einheitliche Linie in der Leseförderung zu entwickeln. Die Kinder und Jugendlichen heutzutage sind nicht dümmer oder weniger kreativ, nur weil sie weniger Klassiker lesen", stellt Lauer fest. "Es gibt wahnsinnig viele unterschiedliche Formen von Literatur – in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind viele neue dazugekommen, beispielsweise Fanfiction oder textlastige Videospiele." Lauer plädiert dafür, die Hierarchie aus den Köpfen zu verbannen, die bei vielen Menschen immer noch besteht: "Für sie steht ganz oben Goethe und alles danach ist schlechter."
Dennoch gibt es große Defizite bei der Lesefähigkeit: "Lesen ist die Grundlage für Bildung. Viele Kinder haben zu Hause niemanden, der mit ihnen liest oder bei dem sie sehen, dass er oder sie Lust am Lesen hat. Gerade diese Kinder brauchen dringend Unterstützung. Hier in Mainz sind wir selbst aktiv geworden", berichtet Vogel. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen pflegt sie vielfältige Kooperationen mit Schulen und Kitas, aber auch mit der Katholischen Öffentlichen Bücherei oder Mentor e.V., einem Verein, der individuelle Lesebetreuungen organisiert. Im Rahmen des Bachelorstudiums können JGU-Studierende dort ein Praktikum absolvieren und Patenschaften für einzelne Schülerinnen und Schüler übernehmen, die sie dann regelmäßig besuchen, um gemeinsam zu lesen. Schon seit zehn Jahren bindet Vogel ihre Studierenden in die aktive Leseförderung ein. Hinzu kommt die enge Zusammenarbeit mit der für die Bundesrepublik einzigartigen "Stiftung Lesen" hier in Mainz.
"Mainzer Leseabenteuer"
Das "Mainzer Leseabenteuer" ist ein weiteres Projekt, das Vogel am Herzen liegt. Entstanden ist die Idee im Rahmen des Leseförderungsprojekts "Literanauten", das vom Arbeitskreis für Jugendliteratur koordiniert wird. Gemeinsam mit Studierenden der Studiengänge Kommunikationsdesign und Zeitbasierte Medien der Hochschule Mainz haben JGU-Studierende der Buchwissenschaft eine multimediale Schnitzeljagd für Schülerinnen und Schüler von insgesamt 20 ersten und zweiten Klassen konzipiert.
"Die Kinder waren schon bei den Planungen eingebunden und durften bestimmen, welche Geschichten im Leseabenteuer aufgegriffen werden. Sie haben die Ideen der Studierenden bewertet. Ihre Meinung war uns besonders wichtig und das haben die Kinder auch gemerkt. Diese Zuwendung und das Gefühl, ernst genommen zu werden, haben einen unwahrscheinlich großen Einfluss auf die Kinder. Das schafft noch mal eine ganz andere Form der Motivation. Und genau das ist ja unser Ziel – bei Kindern die Freude am Lesen zu wecken und sie so zum Lesen zu motivieren", erzählt Vogel. "Beim Leseabenteuer haben wir mit sogenannten Brennpunktgrundschulen zusammengearbeitet, also Schulen, in die Kinder mit einer weniger guten Ausgangslage gehen. Das Feedback war überwältigend – sowohl die Kinder, ihre Lehrerinnen und Lehrer als auch die Studierenden waren hellauf begeistert."
Lesen und Bildung zusammendenken
Die Mainzer Buchwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verfolgen bei der Leseförderung einen ganzheitlichen Ansatz: "Lesen und Bildung müssen zusammengedacht werden. Wer schlecht Lesen kann, dessen Chancen im Bildungssystem und damit auch später im beruflichen Umfeld sind sehr begrenzt. Wir wollen mit unserer Arbeit die Chancengleichheit ein Stück weit verbessern und dabei helfen, Barrieren abzubauen", betont Vogel. "Von den Erfahrungen mit leseschwächeren Schülerinnen und Schülern profitieren unsere Studierenden sehr: Sie sind vor diesem Hintergrund eher in der Lage, Schulbücher und andere Lernmaterialien mit zu konzipieren. Außerdem werden sie sich ihrer vergleichsweise meist privilegierten Kindheit bewusster."
Es bleibt viel zu tun – die Tafel in Lauers Büro wird sich mit der Zeit füllen, die Buchwissenschaft wird neue Methoden zur Leseforschung entwickeln, Vogel und ihre Kolleginnen und Kollegen werden weitere Kooperationen zur Leseförderung erschließen. Zum Abschluss verrät Lauer: "Mein Wunsch wäre, wir bilden eine Forschungsgruppe und gründen ein Graduiertenkolleg. Das wäre dann deutschlandweit das erste dieser Art." Er lächelt und meint: "Am liebsten würden wir ein Leibniz Institut für Leseforschung in Mainz aufbauen – man wird ja noch träumen dürfen."