20. November 2025
Er ist ein unermüdlicher Netzwerker für die Entwicklung und den Einsatz künstlicher Intelligenz – der Mainzer Informatiker Prof. Dr. Stefan Kramer. Seit einem Jahr ist er zudem KI-Lotse für Life Sciences im Land Rheinland-Pfalz, offiziell benannt durch den Ministerpräsidenten. Im JGU-Magazin berichtet Stefan Kramer über seine Erfahrungen und Pläne und das Potenzial von KI in den Lebenswissenschaften.
Unbekannte Strömungen und gefährliche Untiefen: Lotsen sind unverzichtbar, um Schiffe sicher durch anspruchsvolle Gewässer zu leiten. Aber auch auf anderen Gebieten gibt es Lotsen – zum Beispiel in der Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI). Im August 2024 ist der Informatiker Stefan Kramer, Inhaber der Professur für Data Mining an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer als KI-Lotse für den Bereich der Lebenswissenschaften im Land benannt worden.

Und welches Zwischenresümee zieht Prof. Dr. Stefan Kramer nach diesem ersten Jahr? "Die Aufgabe des KI-Lotsen ist sehr faszinierend, denn man ist als Akteur im Austausch mit vielen verschiedenen Partnern im ganzen Land", berichtet er. Neben Wirtschaft und Hochschulen nennt der KI-Lotse hier beispielsweise das Life Science Zentrum Mainz, die Vernetzungsplattform BioVation RLP, den Life-Science- und Biotechnologiehub biomindz und das Zukunftscluster curATime. "Besonders eng ist natürlich der Austausch innerhalb der JGU, unter anderem mit dem Institute for Quantitative and Computational Biosciences, dem Netzwerk ReALity – kurz für "Resilience, Adaptation and Longevity" – und der Chemie mit Anwendungen beispielsweise im Feld der Drug Discovery", beschreibt Kramer. "Darüber hinaus gibt es selbstverständlich sehr wichtige Schnittstellen zur Universitätsmedizin Mainz."
Vernetzen, informieren, begeistern
Und wie genau unterstützt der 1969 geborene Informatiker Unternehmen und Organisationen im Land dabei, optimalen Kurs zu halten beim Einsatz von künstlicher Intelligenz in den Lebenswissenschaften? "Es geht in der Praxis vor allem um Vernetzung und Information, beispielsweise indem ich Trendthemen für den Sektor aufzeige", so Kramer. Der Bedarf dafür ist groß: Grundsätzlich habe das Jahr 2025 im Zeichen einer umfangreichen Automatisierung der Lebenswissenschaften gestanden, von der Datenauswertung bis zu Abläufen im Labor. Als ein Beispiel nennt Kramer das automatisierte Erkennen von vielversprechenden Wirkstoffkandidaten im Bereich Drug Discovery oder die Materialforschung.
Im Gespräch strahlt Prof. Dr. Stefan Kramer eine Begeisterung für seine Tätigkeit als KI-Lotse aus, die sehr schnell auf den interessierten Laien überspringt. Und dabei versteht sich der Wissenschaftler nicht nur als Lotse für KI in den Lebenswissenschaften, sondern auch als unermüdlicher Botschafter der Sache. Sein zentrales Anliegen ist es, einzelne Anwendungen zu bündeln und so das weite Feld der KI-Anwendungen im Land Rheinland-Pfalz, das sich erfolgreich als internationaler Standort für Biotechnologie positioniert hat, konsequent voranzubringen.
Die großen Fragen jenseits konkreter KI-Anwendung
In seiner eigenen Arbeit setzt sich Kramer immer wieder mit übergeordneten Fragen rund um KI auseinander: Da geht es zum Beispiel um Fairness und um Transparenz oder um die Privatheit von Daten. "Auch wenn es bei uns eine stärkere Regulierung von KI-Anwendungen gibt als beispielsweise in den USA, so besteht doch nicht zwangsläufig ein genuines Interesse in der Industrie, diese Themen selbst aktiv voranzutreiben", berichtet der Hochschullehrer mit kritischem Blick auf die Entwicklung.
Kramer bezeichnet sich selbst als "gebürtigen Informatiker", aber mit ausgeprägter philosophischer Ader. So spiegelte sich sein weit gefasster Wunsch nach Erkenntnis schon in seinen eigenen Studienschwerpunkten wider: Informatik an der TU Wien und Philosophie inklusive Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie an der Universität Wien. Kramer selbst steckte noch mitten im Studium, als künstliche Intelligenz gerade aufkam und sich praktische Anwendungsmöglichkeiten in Wissenschaft und Wirtschaft herauskristallisierten. "Das war damals eine ganz junge Disziplin, das Thema Maschinelles Lernen war gerade erst zehn Jahre zuvor aufgekommen", erinnert sich der JGU-Professor.

Einen Schlüsselmoment erlebte er 1994 beim Besuch einer internationalen Machine-Learning-Konferenz an der Rutgers University in New Jersey: Dort wurden Möglichkeiten für die Anwendung von künstlicher Intelligenz in den Lebenswissenschaften diskutiert, erste Anwendungen von KI für die Analyse von Proteinstrukturen existierten bereits. "Spätestens da wusste ich: Das ist nicht nur interessant, sondern auch extrem relevant", erinnert sich Kramer.
Entwicklung mit zahlreichen Erfolgsgeschichten
Fünf Jahre später promovierte Stefan Kramer in Wien, arbeitete in der universitären und industriellen Forschung, wechselte dann für eine Habilitationsstelle nach Freiburg und wurde 2003 auf eine Professur für Bioinformatik an der Technischen Universität München (TUM) berufen. 2011 erfolgte dann der Ruf auf die Professur für Data Mining am Institut für Informatik der JGU. Seither hat sich das Feld der Informatik höchst dynamisch weiterentwickelt: "Die Zahl der Mitarbeitenden am Institut hat sich verdreifacht, die Drittmittel haben sich verzehnfacht – und die Informatik an der JGU hat etliche Erfolgsgeschichten geschrieben", so Kramer.
Viele Themen in der KI-Entwicklung seien insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung von großen Technologiekonzernen besetzt, so der KI-Lotse. Universitäre Forschung und Lehre mache das aber nur umso wichtiger. Prof. Dr. Stefan Kramer selbst forscht beispielsweise zu neurosymbolischer KI und relationalem Lernen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wie sich Wissensgraphen und andere komplexe Strukturen für maschinelle Lernmethoden erschließen lassen. Ein Ziel der Arbeiten ist es, Halluzinationen und Trugschlüsse von KI zu verringern und künstliche Intelligenz vertrauenswürdiger zu machen. Die JGU sei nicht die einzige Universität, die zu dem Feld forscht. "Aber wir sind ziemlich gut dabei", lacht Kramer zufrieden.
Unglaubliche Dynamik in Rheinland-Pfalz und Mainz
Nach den Potenzialen von KI in der Biotechnologie für die kommenden Jahre in der Region gefragt, zeigt sich der Informatiker zuversichtlich. "Von der Entwicklung neuer Therapeutika bis zu innovativen Ansätzen in der Diagnose von Krankheiten – das Feld der Anwendungen ist immens", erklärt Prof. Dr. Stefan Kramer. Dabei sieht er Rheinland-Pfalz und hier insbesondere die Landeshauptstadt Mainz gut aufgestellt. "Land und Stadt weisen eine unglaubliche Dynamik auf, die in den vergangenen Jahren durch kluge Förderung unterstützt wurde." Nun gehe es darum, diese Entwicklung zu verstetigen und auszubauen, unter anderem durch eine kluge Berufungspolitik an den Hochschulen, durch die Ansiedlung von Industrieunternehmen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch durch die Stärkung der Infrastruktur mit Laborflächen und IT-Einrichtungen.

Der KI-Lotse selbst ist auf verschiedenen Ebenen in diesen Prozess eingebunden. Das reicht von Keynote-Vorträgen über den Austausch mit dem Ministerium auf Sachebene bis zu Dinner Clubs und Formaten zur Kommunikation mit der interessierten Öffentlichkeit. "Die Herausforderung dabei ist, komplexe Themen gut verständlich und treffend für das jeweilige Publikum aufzusetzen." Zudem ist gerade das Buch "Was ist künstliche Intelligenz? 100 Fragen und Antworten" erschienen, ursprünglich von Hannu Toivonen geschrieben und von Stefan Kramer ins Deutsche übertragen, von beiden ergänzt und aktualisiert. Im Oktober 2026 wird dann die zweite internationale Konferenz über KI in den Wissenschaften – AI4Sci 2026 – in Mainz stattfinden. Zudem ist angedacht, sich mit einer Serie von Videos an ein vielfältiges Publikum auf dem JGU-Campus zu wenden, um zu informieren und Vernetzung zu stärken.
Ein Ziel hat sich der KI-Lotse für die eigene Universität angesichts der Herausforderungen für das Forschungsfeld gesetzt: "Die Informatik an der JGU soll weiter gestärkt werden, auch im Kooperationsnetzwerk der Rhein-Main-Universitäten." Überhaupt setzt Kramer auf eine enge und produktive Zusammenarbeit von Forschungseinrichtungen. Seine Vision: "eine Art CERN für künstliche Intelligenz", das als KI-Forschungszentrum die Fähigkeiten aus ganz Europa bündelt – für mehr Souveränität des Kontinents in einem der wichtigsten Zukunftsfelder der Wissenschaft überhaupt. "Das hätte positive Auswirkungen nicht nur auf Europa, sondern auf die ganze Welt", ist sich der Informatiker sicher.
Text: Peter Thomas
