"So eine Form von Desinformation habe ich noch nie erlebt"

11. April 2012

Günter Meyer ist ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um die Krise in Syrien geht. Die Medienvertreter geben sich bei dem Universitätsprofessor vom Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Klinke in die Hand. Der Orient-Experte versucht, gegen den Mainstream der Berichterstattung anzuschwimmen. Er kritisiert, dass einseitig Stimmung gemacht wird für die Oppositionellen.

Günter Meyer ist sich sicher: "Der 6-Punkte-Plan von Kofi Annan ist die letzte Chance, Chaos und Bürgerkrieg in Syrien zu verhindern." Doch zugleich sieht er große Probleme: "Die USA haben kein Interesse an einer friedlichen Lösung, bei der Bashar al-Assad an der Macht bleiben könnte." Und die Amerikaner sind nicht allein...

Seit Beginn des Arabischen Frühlings ist Prof. Dr. Günter Meyer vom Geographischen Institut der JGU ein begehrter Interviewpartner für die Medien. "Als das Ganze in Kairo begann, sollte der SWR einen ARD-Brennpunkt senden. Die suchten einen Fachmann, ich war greifbar, und dann hatte ich um 20:15 Uhr 5,8 Millionen Zuschauer. Danach war ich überall gefragt. Mein Rekord lag bei 18 Interviews innerhalb von 24 Stunden, nachdem Gaddafi gefasst worden war."

"Dort ist meine zweite Heimat"

Der Vordere Orient ist ein Schwerpunkt in Meyers Forschungen. Unter anderem ist er Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt (ZEFAW) und Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation (DAVO). Aber sein Interesse an der arabischen Welt, an den Vorgängen in Syrien, reicht tiefer: "Ich habe fast vier Jahrzehnte wissenschaftlich in der Region gearbeitet. Dort ist meine zweite Heimat, und wenn ich etwas zur Aufklärung beitragen kann, sehe ich das als meine Pflicht."

In seinem Büro stehen einige Karten der Region aufgerollt in der Ecke. "Wenn das Fernsehen kommt", meint Meyer lächelnd, "die wollen was für's Auge." Eigentlich klingt das so, als sei seine Einstellung zu den Medien rundum positiv. Doch wenn die Syrien-Krise zur Sprache kommt, senken sich seine Mundwinkel schlagartig. "So eine Form von Desinformation habe ich noch nie erlebt. Die völlig einseitige Berichterstattung hat sich erst in den letzten Wochen geändert."

Gefälschte Videos zur Syrien-Krise

Meyer konstatiert eine gezielte Kampagne der Opposition und anderer Kräfte. "Jede Menge Videofilme werden verbreitet, die völlig falsche Informationen enthalten. Selbst die Nachrichtenagentur Reuters fiel auf eine solche Fälschung herein und verkaufte einen Film aus dem Libanon von 2008 als aktuelles Dokument zur Syrien-Krise." Meyer nennt ein weiteres skandalöses Beispiel: "Al-Jazeera hatte am Anfang noch eine hohe Akzeptanz als Nachrichtensender. Aber dann tauchten Mitschnitte auf, in denen zwei Journalisten des Senders bei der Interviewvorbereitung einem als Verletzte kostümierten Mädchen erklären, was es bei der Aufzeichnung sagen soll, und einen Arzt dazu bringen, eine falsche Diagnose für das gesunde Kind abzugeben. Da wird systematische Fälschung betrieben. Al-Jazeera hat dadurch in der arabischen Welt als seriöse Quelle weitgehend den Rückhalt verloren." Nebenbei: Der Sender wird vom Emir von Katar finanziert. Und Katar ist neben Saudi-Arabien der Hauptopponent Syriens in der Region. In beiden Ländern herrschen konservative sunnitische Regime.

"Am Anfang war das Bild, das die Medien zeichneten, richtig", räumt Meyer ein. "Assad hat mit massiver Gewalt friedliche Demonstrationen niedergeschlagen und Tausende eingekerkert. Inzwischen aber kämpfen auch die Aufständischen mit größter Brutalität nicht nur gegen die Regierungstruppen, sie vertreiben und ermorden auch unbeteiligte Zivilisten und üben Anschläge auf die Infrastruktur aus. Immer mehr Alawiten und Christen, die überwiegend das säkulare Regime stützen, werden zu Zielscheiben oppositioneller Scharfschützen." In den meisten Berichten allerdings halte sich das Bild aus der Anfangszeit. "Erst ganz allmählich nehmen die westlichen Medien zur Kenntnis, dass die Gewalt auch von Oppositionellen ausgeht, die durch Anhänger von al-Qaida und Jihadisten aus den arabischen Ländern Unterstützung bekommen haben."

Assad ist den Amerikanern unbequem

"Ob USA, Frankreich oder Großbritannien, alle haben eine klare Politik: die einseitige Verurteilung des Assad-Regimes. Sie sehen die große Chance, aus der Achse der Schiiten, der Gegner Israels, Syrien herauszusprengen." Assad ist unbequem, vor allem für die US-Regierung. "Sein Regime ist eines der wenigen in der arabischen Welt, die fast immer auf Konfrontationskurs mit den USA gegangen sind. Jetzt bietet es sich an, die Chance zu nutzen und das Regime zu stürzen."

Dabei steht mindestens die Hälfte der Bevölkerung hinter Assad. "Zwar wurde der ländliche Raum, wo die Rebellion begonnen hat, in den letzten Jahren vernachlässigt, und eine Dürre verschärfte die Situation noch, aber gleichzeitig hat die Bevölkerung in den größten Städten Damaskus und Aleppo erheblich von den wirtschaftlichen Reformen des Regimes profitiert. Dort hat Assad den stärksten Rückhalt. Wenn also in Damaskus zwei Millionen Menschen für ihn auf die Straße gehen und von den westlichen Medien als bezahlte Jubler dargestellt werden, ist das falsch." Davon abgesehen schlagen sich Assad-Gegner nicht automatisch auf die Seite der Aufständischen. "Viele fürchten sich vor dem Chaos, vor einem Bürgerkrieg."

Chaos und Bürgerkrieg verhindern

Meyer konstatiert: "Wenn es zu einem Bürgerkrieg kommt, explodiert das Land. Der 6-Punkte-Plan von Annan ist die letzte Chance, Chaos und einen Bürgerkrieg zwischen den verschiednen ethnischen und religiösen Gruppen zu verhindern – insbesondere zwischen der sunnitischen Mehrheit auf der einen Seite sowie den Alawiten und Christen auf der anderen Seite. Alles wird davon abhängen, ob es der UN gelingt, die Umsetzung des Annan-Plans zu überwachen."

Doch es wird schwer. In der Opposition wirken mehrere Kräfte. Da ist zuerst der Syrische Nationalrat. "Ihm gehören fast ausschließlich Exilsyrer an und sie werden von der sunnitischen Muslimbruderschaft dominiert. Sie fordern eine ausländische Intervention und Waffenlieferungen, um das alawitische Regime von Assad gewaltsam zu stürzen. Sie streben eine religiös orientierte Herrschaft an, die von den konservativen sunnitischen Monarchien auf der Arabischen Halbinsel unterstützt wird." Dagegen besteht das Nationale Koordinierungskomitee für einen demokratischen Wandel aus den in Syrien lebenden Mitgliedern von 13 oppositionellen Gruppen. "Das sind vor allem linksorientierte Parteien. Sie wollen eine nationale Lösung, Verhandlungen mit Assad und die Bewahrung eines säkularen Staates." Das wiederum sieht bei den rund 300 lokalen Komitees in Syrien schon wieder anders aus, die vor Ort den Widerstand koordinieren und die vor allem das gemeinsame Ziel des Assad-Sturzes verbindet. Als vierte Kraft bleibt die Freie Syrische Armee mit Hauptquartier in der Türkei. Sie umfasst nach unterschiedlichen Quellen 2.000 bis 40.000 Deserteure, die das syrische Regime vor allem durch Guerilla-Einsätze bekämpfen.

Innersyrische Lösung oder Intervention?

"Wir haben den Hauptkonflikt innersyrische Lösung oder Lösung von außen – vor dem Hintergrund zunehmender ethnisch-religiöser Spannungen. Und wir haben ein Problem: Selbst wenn die syrische Regierung einlenkt, werden die anderen weitermachen." Meyer hofft auf UN-Beobachter. "Sie müssen vor Ort feststellen, wer genau für die Gewalt verantwortlich ist."

Zurzeit beschäftigt sich Meyer drei, vier Stunden am Tag nicht nur mit der Situation in Syrien, sondern auch in den anderen Ländern, die von der "Arabellion" betroffen sind. "Ich recherchiere im Netz und kontaktiere arabische Kollegen. Die normalen universitären Tätigkeiten erledige ich im Moment eher in den Nachtstunden und am Wochenende." Vor 14 Tagen hat er sein 250. Interview zum Arabischen Frühling gegeben und wahrscheinlich wird es so weitergehen. Seine zweite Heimat lässt Günter Meyer nicht los.

Aber wenn er darstellen kann, was für ein Unsinn über die Syrien-Krise berichtet wird, dann lächelt er auch in eine Kamera. Dann holt er die Karte aus der Ecke seines Büros und zeigt den Medien, worum es wirklich geht.