So funktioniert Europa

20. Juli 2017

Studierende aus rund 20 Ländern trafen sich Anfang Juli an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), um die Arbeit des Europäischen Parlaments zu simulieren. Mit der Model European Union Mainz, kurz MEUM, können sie die Gesetzgebungsverfahren der EU hautnah nachvollziehen. Die ehrenamtlichen Organisatoren der Tagung wollen so für den europäischen Gedanken werben.

Es ist anstrengend, ein Populist zu sein. "Es ist aber auch reizvoll, sich in eine politische Haltung hineinzuversetzen, die überhaupt nicht die eigene ist", betont Lukas Feuchter. "Die anderen stöhnen schon, wenn ich mich zu Wort melde. Sie ahnen ja, was da kommt." Feuchter führt die Fraktion der EFDD im Europäischen Parlament, ein Sammelbecken für rechte Strömungen. Damit schlüpft er ein wenig auch in die Rolle des Briten Nigel Farage. "Wir sind so ziemlich gegen alles", erklärt Feuchter. Zugleich räumt er ein: "Das ist auf Dauer schon ermüdend."

In der anstehenden Sitzung wird es darum gehen, einen Gesetzesentwurf zum Kampf gegen den Terrorismus zu diskutieren. "Ich werde vorschlagen, dass wir den Begriff 'Terrorismus' in 'islamischen Terrorismus' ändern." Feuchter grinst. "Wahrscheinlich werde ich damit nicht durchkommen" Aber in seiner Rolle als EFDD-Fraktionschef wird er es versuchen.

Simulation mit Tradition

Bereits zum achten Mal haben Studierende zur Model European Union Mainz, kurz MEUM, auf den Gutenberg-Campus geladen. Es geht darum, die Gesetzgebungsverfahren im EU-Ministerrat und im Europäischen Parlament möglichst realistisch zu nachzustellen. "EU-Simulationen gibt es mittlerweile in vielen Ländern. Man kann im Sommer praktisch jede Woche eine erleben, ob in Barcelona, Warschau oder Kiew", meint Christopher Niederelz vom 20-köpfigen MEUM-Organisationsteam. "Aber wir sind eine der ältesten."

Die Mainzer Model European Union lockt Studierende aus der ganzen Welt an die JGU. "Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus Israel, Kolumbien, Tunesien, Belgien, aus den Niederlanden, Kanada und den USA." Organisatorin Tamara Bayreuther holt kurz Luft. "Eine Gruppe Georgier ist diesmal leider am Flughafen hängen geblieben – und wie immer fehlen die Engländer."

Lukas Feuchter ist aus Wien angereist. Dort hat der Jurastudent an seiner ersten EU-Simulation teilgenommen. "Die EU hat mich schon immer interessiert und dies ist eine ganz besondere Art, sich mit ihr vertraut zu machen."

MEUM gibt über fünf Tage hinweg Gelegenheit, tief in die parlamentarische Arbeit einzutauchen. Zwei Gesetzesvorlagen, die tatsächlich in Brüssel Thema sind, werden in Mainz diskutiert, modifiziert und verabschiedet. Sie wandern ähnlich wie in der Realität zwischen Parlament und Ministerrat hin und her. Diese Simulation erschöpft sich also nicht in flammenden Grundsatzreden: Es gibt viel Kleinarbeit. So muss über jeden Änderungsvorschlag debattiert werden und zwar nach festen, nicht immer ganz einfachen Regeln.

Der Aufwand lohnt sich

Das ist nicht nur für die Teilnehmerinnen und Teilneher eine Herausforderung, sondern auch für das überwiegend aus Studierenden der JGU bestehenden Organisationsteam. Ausführliche Bewerbungen mussten gesichtet werden und jeder Gast bekam im Vorfeld umfangreiches Informationsmaterial, auf dessen Grundlage sie oder er selbst weiterrecherchieren konnte. "Die inhaltliche Ausgestaltung nahm ungeheuer viel Zeit in Anspruch", erzählt Christopher Niederelz. Zudem mussten Flyer und Broschüren gedruckt werden, für Unterkünfte, ein Rahmenprogramm und die Infrastruktur insgesamt musste gesorgt sein. "In der Zeit von Ostern bis zur Simulation haben wir praktisch einen Fulltime-Job und auch im Nachgang gibt es noch jede Menge zu tun. Aber wer mal bei MEUM dabei war, weiß, dass sich die ganze Arbeit lohnt."

Unterstützt wird das Team von der Studierendenorganisation AEGEE, der Association des États Généraux des Étudiants de l’Europe, und vom Verein BETA – Bringing Europeans Together Association e.V., den junge Europäerinnen und Europäer im Jahr 2008 in Mainz gründeten. Zudem ist Dr. Wolfgang Muno vom Institut für Politikwissenschaft der JGU mit im Boot. Unter anderem bietet er für Mainzer Studierende ein vorbereitendes Seminar zu MEUM an.

Christopher Niederelz belegte bereits 2012 eben dieses Seminar. "Ich war sofort Feuer und Flamme. Mit MEUM erfahren die Leute, was die EU wirklich ist, was das EU-Parlament kann und was es nicht kann. Sie erfahren, warum Gesetzgebungsprozesse so lange dauern und warum das gut ist."

Parlament und Presse

Die 85 Teilnehmerinnen und Teilnehmer fungieren zumeist als Minister oder als EU-Parlamentarier. "Ich habe die Rollen mehr oder weniger zufällig zugewiesen", sagt Tamara Bayreuther. "Die einzige feststehende Regel ist, dass niemand sein eigenes Land vertreten darf. Außerdem schaue ich, dass in den kleineren Fraktionen immer jemand dabei ist, der schon Erfahrungen mit dem MEUM-Format hat."

Sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer schlüpfen in die Rolle von Journalisten. Sie liefern die Beiträge für die täglich erscheinende Zeitung "The Mercury". "In den ersten Jahren gestaltete sich das noch recht brav", erzählt Chefredakteur Niederelz. "Die Zeitung war im Grunde eine Art Sitzungsprotokoll. Dann haben wir unsere Journalisten ermutigt, näher an unsere Politiker heranzutregen, auch mal boulevardesk und polemisch zu schreiben." Nun werden Parlamentarier gern interviewt und mitunter scharf angegangen. "Das Interesse am 'Mercury' ist groß, jeder will wissen, ob was über ihn drinsteht, wie er dargestellt wird."

Auch wird zu den Sitzungen rege getwittert: Vor den beiden Mensa-Sälen, in denen Rat und Parlament tagen, sitzt immer jemand vom Organisationsteam am PC, um diese Facette lebendig zu halten. "Das ist ein Aspekt, der sich in den letzten Jahren immer mehr entwickelt hat", sagt Niederelz. "Ganz wie im wirklichen Leben."

Doch beides bleibt Randerscheinung, im Mittelpunkt steht weiterhin die politische Arbeit. Sara Bourdeau etwa sitzt für Österreich im Parlament, Emily Mayrand und Carole Turbide sprechen für die Niederlande. Die drei gehören zu einer kanadischen Studierendengruppe, die mit ihrem Dozenten für drei Wochen angereist ist, um die EU kennenzulernen. Sie waren bereits in Brüssel, MEUM bildet den Abschluss ihrer Exkursion.

Kanadische Europäer

"Das kanadische Parlament ist lauter", schildert Mayrand in einer kurzen Sitzungspause ihre Eindrücke. Hier geht alles viel ruhiger und sachlicher zu. Die EU wirkt auf uns sehr komplex, wir wussten ursprünglich nicht, was da eigentlich passiert." Die drei mussten sich quasi von null an einarbeiten in die Positionen der Länder und der Parteien, die sie vertreten. "Erst war ich mir unsicher in meiner Rolle", räumt Turbide ein, "aber jetzt gefällt mir der Austausch mit den anderen. Dies ist eine gute Art, europäische Politik verstehen zu lernen."

Dann kommt der Ruf aus dem Saal: Parlamentspräsidentin Lina Kalouti mahnt zur Fortsetzung. Die erfahrene MEU-Teilnehmerin aus Israel führt ein strenges Regiment und achtet genau auf die Einhaltung der Regularien. "Sie ist großartig", flüstert Niederelz. "Ich könnte das so nicht." Die Änderungsvorschläge für das Anti-Terrorismus-Gesetz stehen zur Diskussion. Feuchter meldet sich für Großbritannien. Kalouti gibt ihm 60 Sekunden Zeit, seinen Vorschlag zu präsentieren. Es wird unruhig im Saal. Er wird nicht durchkommen mit seiner Version. Aber das hatte er ja geahnt.