So sehen Fliegen und Menschen

14. Januar 2020

Seit Anfang 2019 forscht Prof. Dr. Marion Silies am Fachbereich Biologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zur Organisation und Funktion von Schaltkreisen in visuellen Systemen der Fruchtfliege. Für ihre Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet.

Anfang 2019 bezog Prof. Dr. Marion Silies ihre Räume im frisch errichteten BioZentrum I auf dem Gutenberg-Campus. "Es gefällt mir hier", bemerkt sie. "Alles wirkt so offen und freundlich." In ihrem Büro fällt sofort die Grafik des Karikaturisten Frank Hoppmann ins Auge: Ein Frosch in Rot streckt sich nach einer schwarzen Fliege. "Ich mag seine Bilder – und er ist im selben Dorf wie ich aufgewachsen, in Emsbüren im Emsland. Ich dachte, das passt. Er zeichnet vor allem Fliegen, Schweine und Politiker." Um Fliegen wird es auch im folgenden Gespräch gehen: Silies und ihre Arbeitsgruppe forschen zur Fruchtfliege Drosophila melanogaster.

Vor ihr auf dem Tisch liegen einige Blätter mit Mikroskopiedaten. "Sie zeigen, wie einzelne Zellen aus dem Auge der Drosophila auf sich bewegende Stimuli reagieren", erklärt Silies. Neben einem für den Laien eher rätselhaften Foto aus dem Mikroskop finden sich jeweils vier Kurven, die für die Richtungswahrnehmungen stehen: oben, unten, links und rechts. Pro Zelle ist immer bei einer der Kurven ein deutlicher Ausschlag zu erkennen: Jede dieser Zellen registriert also Bewegung in eine bestimmte Richtung.

Neuronale Netzwerke des Bewegungssehens

Die visuelle Verarbeitung ist Silies' großes Forschungsthema. Sie erläutert kurz, wie es grundsätzlich funktioniert – bei der Fliege und beim Menschen: "Die Fotorezeptoren der Augen messen zuerst Helligkeit. Daraus wird Kontrast errechnet und helle werden von dunklen Kontrasten unterschieden. Wir beginnen Kanten zu erkennen, dann folgen Bewegung und Orientierung. Bewegung ist im Grunde nichts anderes als eine Veränderung von Kontrast in Raum und Zeit."

Silies interessiert, was auf neuronaler Ebene hinter diesem Prozess steckt. Sie untersucht die neuronalen Netzwerke im visuellen System der Fliege, die Informationen aus der Umwelt herausfiltern, um Verhalten zu steuern. "Meine Arbeitsgruppe erforscht, auf welche Weise die Nervenzellen in Schaltkreisen organisiert sind, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Neuerdings interessiert uns insbesondere, welche molekularen Mechanismen bestimmten Nervenzellen ihre einzigartigen Eigenschaften verleihen." Mittlerweile ist recht präzise beschrieben, wie die Neuronen beim Bewegungssehen funktionieren. "Die molekularen Vorgänge verstehen wir allerdings noch nicht so gut."

"Es hat sich gezeigt, dass diese neuronalen Mechanismen für Bewegungsdetektion im Auge von Fruchtfliegen und von Wirbeltieren total ähnlich sind." Da sich aber das Insektenauge und das Wirbeltierauge im Laufe der Evolution separat entwickelten, kommt Silies zu dem Schluss: "Offenbar gibt es in sehr unterschiedlichen Augen bevorzugte Lösungen für dasselbe Problem."

Von Münster über Stanford und Göttingen nach Mainz

Dass Silies an der Drosophila forscht, lag nahe. Kaum ein anderer Organismus ist so gut erforscht und mit kaum einem anderen lässt sich so einfach arbeiten – auch wenn die Fruchtfliege alles andere als einfach ist: "Allein in ihrem visuellen System verfügt sie über rund 100.000 Nervenzellen", sagt Silies. Bereits für ihre Promotion in Münster benutzte die Biologin Drosophila als Modell, um die Entwicklung des Nervensystems zu untersuchen. Als Postdoc an der kalifornischen Stanford University konzentrierte sie sich dann auf das Bewegungssehen der Fliege. Diesen Weg verfolgte sie konsequent weiter: Im Jahr 2014 gründete sie am European Neuroscience Institute Göttingen die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe "Die zelluläre und molekulare Grundlage des Bewegungssehens". Zudem warb sie einen ERC-Grant ein, die höchstdotierte Förderung, die in Europa an Nachwuchsforscherinnen und -forscher vergeben wird, um die synaptische Struktur in den neuronalen Schaltkreisen des visuellen Systems der Fliege zu untersuchen.

"Für die Fruchtfliege steht uns ein ganzes Arsenal an Werkzeugen zur Verfügung, mit dem wir jede Nervenzelle gezielt ansprechen können. Wir können sie an- und ausschalten oder mit Proteinen markieren. Das alles geschieht nicht invasiv, sondern indem wir einfach einen neuen Fliegenstamm züchten: Die Nachkommen sind dann ganz normal – bis auf einzelne Nervenzellen."

Ihr Team fand mithilfe dieser Tools kürzlich heraus, wie die visuelle Verarbeitung auch in sich ständig verändernden Lichtverhältnissen präzise funktionieren kann. "Bisher haben wir uns auf Drosophila melanogaster konzentriert", erzählt Silies. "Ich würde gern herausfinden, wie sich die Mechanismen visueller Verarbeitung bei Fliegen, die sich auf andere Umweltbedingungen einstellen müssen, von Drosophila melanogaster unterscheiden."

Fachbereich im Aufbruch bietet ideales Umfeld

An der JGU hat die Biologin das ideale Umfeld gefunden, um ihre Forschungen weiter voranzutreiben. "Ursprünglich war mir Mainz als Standort für Neurowissenschaften nicht wirklich gegenwärtig. Aber mit der hiesigen Neuausrichtung in der Biologie in den vergangenen Jahren hat sich viel getan. Nun gibt es das Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie, das Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie und das Institut für Molekulare Physiologie. Als ich das las, dachte ich: Das sind alles meine Interessen, hier passe ich super rein."

Im Jahr 2018 nahm Silies nicht nur den Ruf auf eine Professur für Neurobiologie an die JGU an, sie wurde auch als Fellow ins Gutenberg Forschungskolleg (GFK) aufgenommen, das exzellente Wissenschaft an der Universität fördert. "Damit hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich für fünf Jahre von der Lehre freistellen zu lassen, um mich auf die Forschung zu konzentrieren", sagt Silies. "Aber mit ist es wichtig, mit Studierenden in Kontakt zu kommen und Zeit in ihre Ausbildung zu stecken, auch um die Neurowissenschaften in Mainz voranzubringen. Mir wäre es darüber hinaus ein Anliegen, dass wir einen dezidierten Studiengang Neurowissenschaft auf die Beine stellen."

Also holte sie über die GFK-Förderung eine Kollegin an die JGU: "Ich habe Dr. Carlotta Martelli in Göttingen kennengelernt. Sie forscht zur olfaktorischen Wahrnehmung der Fruchtfliege. Wir ergänzen uns wunderbar und wir teilen uns die Lehre." Auch sonst fühlt sich Silies gut aufgehoben zwischen ihren Mainzer Kolleginnen und Kollegen. "Das passt alles hervorragend zusammen. Und weil wir noch im Aufbruch sind, habe ich die Chance, hier wirklich etwas mitzugestalten."