Stipendien für gefährdete Forscher

22. Februar 2018

Die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in ihrem Land nicht mehr frei ihrer Forschung nachgehen können, die von Krieg oder Verfolgung bedroht sind. Mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes werden sie über Stipendien an deutsche Hochschulen geholt. Eine der ersten Stipendiatinnen war die Translationswissenschaftlerin Meral Camcı, die 2016 aus der Türkei an den Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz kam.

Im Januar 2016 unterzeichnete Meral Camcı einen Friedensappell, in dem sie sich gemeinsam mit rund 2.000 Akademikerinnen und Akademikern gegen die Bombardierung von Kurdengebieten in der Osttürkei wandte. "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein", lautete die klare Botschaft der Academics for Peace an die türkische Regierung in Ankara. Die Reaktion kam prompt: Die Unterzeichnenden sahen sich massivem Druck ausgesetzt. Viele verloren ihre Arbeitsplätze, sie kamen vor Gericht, einige mussten ins Gefängnis. Camcıs Stelle, die in etwa der einer deutschen Juniorprofessur entsprach, wurde gestrichen. Ihre eben erst begonnene akademische Karriere schien schlagartig zu Ende zu sein. Die Translationswissenschaftlerin wurde festgenommen und saß drei Wochen in Haft.

"Natürlich rechneten wir mit irgendeiner Reaktion des Staates", erzählt Camcı. "Aber sie hätte ja auch positiv ausfallen können. Tatsächlich hatten wir eher darauf gehofft. Die Türkei ist ein Land der schnellen Entwicklungen. Es gab schon Phasen, in denen man mit den Kurden an einen Tisch saß, um gemeinsame Lösungen zu finden."

Meral Camcı in Germersheim

Seit Sommer 2016 ist Camcı am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am Campus Germersheim zu Gast. Hier bekam sie die Chance, jenseits der Türkei weiterzuarbeiten. Möglich wurde dies durch die im selben Jahr ins Leben gerufene Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung, die unter anderem durch das Auswärtige Amt unterstützt wird.

Die Initiative vergibt Stipendien an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in ihrer Heimat durch Krieg oder Verfolgung bedroht sind und dort nicht mehr frei ihrer Tätigkeit nachgehen können. Für jeweils zwei Jahre soll ihr Aufenthalt an deutschen Hochschulen oder Forschungsstellen finanziert werden. Voraussetzung ist, dass sich eine Mentorin oder ein Mentor an der entsprechenden Einrichtung für sie einsetzt und dass ein Konzept für die wissenschaftliche Einbindung von gefährdeten Forscherinnen und Forschern vorliegt. Bis Ende 2017 wurden insgesamt 124 Philipp Schwartz-Stipendien genehmigt, eines der ersten ging an Camcı.

In Germersheim fühlt sich die Translationswissenschaftlerin gut aufgenommen. Unter anderen traf sie hier Prof. Dr. Dilek Dizdar und Dr. Sebnem Bahadır wieder, zwei Mitunterzeichnerinnen des Friedensappells. Dizdar übernahm die Rolle der Mentorin.

Anerkannte Feminismus-Forscherin

"Für mich als Forscherin ist die institutionelle Anbindung ungeheuer wichtig", so Camcı. "Es gab einen Bruch, aber nach diesem Bruch kann ich nun ohne große Unterbrechung meine Forschung fortführen. In Germersheim habe ich Kolleginnen und Kollegen gefunden, mit denen ich Ideen austauschen und über meine Arbeit reden kann. Solche Impulse sind für mich unentbehrlich." Auch der Kontakt zu Studierenden, auf den sie viel Wert legt, ist wieder da: "Ich biete zwei Übungen für Türkisch-Muttersprachler an, in denen wir wissenschaftliche Texte aus meinem Forschungsgebiet lesen und diskutieren."

Ein wenig Deutsch hat Camcı mittlerweile gelernt, im Alltag findet sie sich schon halbwegs zurecht. Doch wenn es um wichtige Themen geht, wechselt sie lieber ins Englische oder besser noch in ihre Muttersprache. Deswegen hat sie für das Gespräch über ihr politisches Engagement, ihre Forschung und ihr Stipendium Dr. Sebnem Bahadır dazu gebeten. Die Germersheimer Kollegin hilft gern als Dolmetscherin aus.

Zum Zeitpunkt ihrer Entlassung beschäftigte sich Camcı mit der Entwicklung des feministischen Diskurses in ihrem Heimatland, mit besonderem Schwerpunkt auf Übersetzerinnen und Übersetzungen von feministischen Texten. "Es gibt in der Türkei eine wichtige Tradition der Auseinandersetzung mit dem Feminismus", erläutert sie. Auch sei eine starke, linksgerichtete sozialwissenschaftliche Richtung vorhanden. "Das wird in Deutschland oft nicht so wahrgenommen." In ihrer Dissertation entwickelte Camcı eine Methode, mit der sich untersuchen lässt, inwieweit durch Übersetzen Gesellschaftskritik geübt wird und ob durch die Übersetzung bestimmter Werke neue Themen in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden. "Es war auf keinen Fall so, dass ich durch meine Arbeiten negativ aufgefallen bin", stellt sie klar. "Im Gegenteil: Mein wissenschaftlicher Bereich ist sehr etabliert und angesehen in der Türkei." Sie fühlte sich fest verankert und anerkannt.

Akademiker für den Frieden

In den letzten Jahren fühlte sie aber auch ein zunehmendes Unbehagen angesichts der politischen Entwicklung in ihrem Land – und das teilte Camcı mit vielen Kolleginnen und Kollegen. Sie engagierten sich als Academics for Peace, als Akademiker für den Frieden. "Diese Bewegung ist nicht erst 2016 mit der Unterzeichnung des Friedensappells entstanden", erzählt sie. "Es ist eine sehr breite Bewegung, in der sich sowohl prominente Forscherpersönlichkeiten als auch junge Doktorandinnen und Doktoranden finden. 89 Universitäten sind mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen vertreten: Verfassungsrechtler, Wirtschaftswissenschaftler, Mediziner ... Die Academics for Peace sind wichtige kritische Stimmen an den türkischen Universitäten. So etwas ist bisher einmalig in der Geschichte der wissenschaftlichen Einrichtungen in der Türkei."

Vor dem Appell konnten die Akademiker für den Frieden noch relativ ungestört in der Türkei leben und arbeiten. Doch das sollte sich ändern. "Das Neue an unserer Petition war die deutliche Positionierung gegenüber dem Staat: Wir stellten uns frontal gegen die Regierung." Das sei aber noch lange kein Gesetzesbruch gewesen. "Uns ging es darum, dass Gewalt und Krieg ein Ende gemacht und der soziale Frieden im Land wiederhergestellt wird. Wir sahen eine schlimme Entwicklung, der wir uns hilflos ausgeliefert fühlten. Wir sollten forschen und lehren. Was sollten wir unseren Studierenden erzählen? Wir hatten auch eine soziale, eine politische Verantwortung."

Der Staat reagierte hart. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden unter anderem wegen &qu
ot;Propaganda für eine terroristische Organisation" und wegen "Verunglimpfung der türkischen Nation" angeklagt. "Professorinnen und Professoren, die seit 30 Jahren lehren, fanden sich auf der Straße wieder", erzählt Camcı, "einige sogar hinter Gittern. Und die Verfahren gegen uns werden nun weitergeführt, gegen jeden einzelnen Unterzeichner, in einzelnen landesweiten Verhandlungen."

Neue Netzwerke schaffen

Vor diesem Hintergrund sieht die Translationswissenschaftlerin das Philipp Schwartz-Stipendium als Überlebensgarantie: "Besonders für all diejenigen, die noch am Beginn ihrer akademischen Karriere stehen, ist diese Initiative wichtig. Ihnen wurde schließlich komplett die Zukunft weggerissen." Das betreffe beileibe nicht nur türkische Kolleginnen und Kollegen. "Die Freiheit der Wissenschaft ist in vielen Ländern bedroht", sagt Camcı. "Wir müssen einsehen, dass dies ein globales Problem ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Europa und in der ganzen Welt sollten Solidarität zeigen für ihre Kolleginnen und Kollegen, die unter Repressionen forschen und lehren müssen."

Camcı hofft nun darauf, dass neue, alternative Strukturen in der Türkei entstehen. Alternative Forschungs- und Lehrorte, die sich unter dem Dach der sogenannten Solidarity Academies einfinden, wollen Netzwerke schaffen, die Wissenschaft auch jenseits staatlicher Einrichtungen möglich machen. "Ich würde mir wünschen, dass sich Förderer von Forschung auch solchen Initiativen öffnen und dass zum Beispiel deutsche Universitäten möglichst kreativ agieren, wenn es darum geht, hier Kooperationen zu schaffen."

Germersheim ist eine wichtige Station, ihr Stipendium dort eine große Unterstützung, daran lässt Camcı keinen Zweifel. Dennoch sagt sie deutlich: "Ich werde auf jeden Fall weitermachen mit meiner Forschungstätigkeit in der Türkei." Wie viele Academics for Peace hofft sie, dass es nicht zu weiteren Inhaftierungen kommt. "Wir wollen uns eine neue Zukunftsperspektive in unserem Land schaffen", sagt sie entschieden mit Blick nach vorn. "Das wollen wir nun angehen."