Théodore Géricaults Bilder auf Leben und Tod

6. Dezember 2013

Eigentlich ist Théodore Géricault berühmt. Der Maler gilt als Begründer der romantischen Schule in Frankreich und als Pionier des Realismus. Doch hierzulande ist er immer noch ein Unbekannter. Prof. Dr. Gregor Wedekind vom Institut für Kunstgeschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) will das ändern: Für die SCHIRN Kunsthalle Frankfurt hat er die erste umfassende Werkschau Géricaults in Deutschland kuratiert.

Im Sommer 1816 sinkt die französische Fregatte "Medusa" vor der westafrikanischen Küste. Die Rettungsboote reichen nicht aus. 150 Menschen müssen auf einem provisorisch zusammengezimmerten Floß ausharren. Beinahe zwei Wochen treiben sie im Atlantik. Am Ende werden gerade einmal 15 Menschen gerettet. Einige haben nur überlebt, weil sie sich von den sterblichen Überresten ihrer Leidensgenossen ernährten.

Diese Katastrophe bewegte nicht nur die französische Öffentlichkeit. Sie inspirierte Théodore Géricault zu seinem monumentalen Gemälde "Das Floß der Medusa". Es zeigt die leidenden Menschen auf engstem Raum. Sterbende Körper sind zu sehen, entblößte Gliedmaßen, Verzweiflung und Resignation zeichnen die Gesichter, in einem kleinen Entwurf zum großen Bild ist sogar das Unsägliche abgebildet: der Kannibalismus.

Erste umfassende Schau in Deutschland

Just dieser Entwurf hängt nun neben 64 anderen Werken des Malers in der Kunsthalle SCHIRN in Frankfurt am Main. Unter dem Titel "Bilder auf Leben und Tod" ist in Deutschland erstmals eine umfassende Ausstellung zu Géricaults Schaffen zu sehen.

"Ich stand vor dem Problem, einen Künstler nach Deutschland zu holen, der hier nicht bekannt ist", erzählt Prof. Dr. Gregor Wedekind, Professor für die Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. "Wenn überhaupt, ist es dieses eine Bild vom Floß, das die Leute kennen. Wer es gemalt hat, wissen die allerwenigsten."

Wedekind forscht seit zehn Jahren zu Géricault. Vor drei Jahren trat er mit der Idee seiner Ausstellung an den Direktor der SCHIRN, Max Hollein, heran. "Es ist immer ein Himmelfahrtskommando, einen unbekannten Gastkurator an ein Haus zu holen", sagt Wedekind. "Sie wissen ja nicht, wen sie sich da einhandeln. Besonders wenn es wie in meinem Fall die erste Ausstellung ist." Hollein wagte es – und das Echo gibt ihm Recht. Der Zuspruch seitens des Publikums ist groß, das Echo in den Medien nachhaltig und rundum positiv bis begeistert.

Romantiker und Realist zugleich

Das mag auch daran liegen, dass Wedekind den Horizont der Schau über das Werk Géricaults hinaus geweitet hat. "Ich wollte keinen einzelnen Superstar zeigen, sondern auch sein Umfeld darstellen. Außerdem wollte ich Géricault aus der nationalen Ecke holen. Die Franzosen rezipieren ihn vor allem in Hinblick auf ihre Kunstgeschichte. Ich wollte zeigen, dass er in eine europäische Kultur eingebunden ist, deren Protagonisten sich gegenseitig wahrgenommen haben." So bietet die Ausstellung auch Bilder von Delacroix, Goya, Füssli oder Menzel.

Gerade in diesem Spannungsfeld bekommen Géricaults Gemälde Kontur. "Er hat fast immer Alltagsszenen dargestellt. Was er zeigt, hat immer etwas mit dem realen Leben zu tun", so Wedekind. Zwar gilt Géricault als Begründer der französischen Romantik, aber anders als viele Zeitgenossen interessierte er sich nicht so sehr für mythische oder literarische Sujets. "Er heroisiert und dramatisiert das Alltagsleben. Er spitzt es auf einen existenziellen Punkt zu." Beim "Floß der Medusa" ist das offensichtlich, aber auch im Bild von einem Boxkampf wird es klar – oder im Gemälde vom heimkehrenden Soldaten, dessen Mimik, dessen gesamte Haltung nicht etwa vom Glanz der Schlacht oder vom Ruhm des Kriegers zeugen, sondern vom Grauen des Krieges und der Niederlage.

"Auch wenn Géricault als romantischer Maler gilt, ist er darin aber Realist. Sein Ansatz ist extrem realistisch und sehr modern.“ Zwar greift er durchaus auf Gestaltungselemente vergangener Epochen zurück, doch kombiniert er sie zu etwas Modernem. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr der Herrscher oder der Fürst, sondern einfache Menschen.

Von der Ausweitung der Ekelgrenze

Jean-Louis André Théodore Géricault, 1791 in guten Verhältnissen geboren, erlebte die Französische Revolution mit, die folgende Schreckensherrschaft, den Aufstieg und Fall Napoleons. Er arbeitete im Paris der Restauration. "Er war ein schöner, reicher Bohemian. Er hatte Erfolg, aber er nutzte diesen Erfolg, um etwas Neues zu schaffen. Er fragte sich: Wie weit dürfen Bilder gehen? Damals durfte man das Schreckliche zeigen, das Ekelhafte nicht. Er weitete die Ekelgrenze aus." Und er rührte an jenen Wunden, die die Restauration zudecken wollte.

Im Jahr 1824 starb Gericault im Alter von nur 32 Jahren. Seine Leidenschaft für Pferde war ihm zum Verhängnis geworden, denn sie schlug sich nicht nur in zahlreichen Pferdedarstellungen nieder. Reitunfälle hatten seine Gesundheit ruiniert. "Er war überhaupt ein leidenschaftlicher Mensch. Im Louvre bekam er Hausverbot, weil er dort mit Kollegen Streit anfing und sich prügeln wollte."

Géricault war aber auch ein Mensch, der der menschlichen Existenz auf den Grund gehen wollte. Er malte abgehackte Glieder und fertigte anatomische Skizzen an. Vor allem jedoch ist er der erste Künstler, der Geisteskranke auf eine geradezu intime Weise porträtierte. "Damals setzte sich gerade der Gedanke durch, dass Geisteskranke keine Tiere oder Bestien sind, sondern Menschen wie du und ich." Auch diese Strömung findet sich in der Frankfurter Ausstellung. Wedekind hat naturwissenschaftliche Exponate mit einbezogen. "Sie sind wichtig zum Verständnis von Géricaults Werk."

Die Monomanen als Ausgangspunkt

Fünf Geisteskranke – "Monomanen" nach dem damaligen Sprachgebrauch – porträtierte Géricault. Vier davon sind in der SCHIRN zu sehen. "Die Idee, sie zu vereinen, war mein Ausgangspunkt."

Das fünfte Gemälde war leider nicht herzuschaffen, aber dafür gewann Wedekind die Malerin Marlene Dumas. Sie interpretierte den "Monomanen des militärischen Befehlens" auf ihre Weise. Nicht ohne Stolz steht der Kurator nun vor dem Bild. "Es ist wahrscheinlich das am höchsten versicherte Werk der Ausstellung."

Gerade die Monomanen fesseln den Betrachter. Géricaults Blick ist genau und pointiert zugleich. Seine Bilder sind wie ein Strudel. Sie lassen kaum Distanz zu. Sie ziehen den Betrachter an, um ihn zu bewegen, zu erschüttern oder gar zu ekeln.

Wedekinds Ausstellung bringt den französischen Maler sehr nahe. Die "Bilder auf Leben und Tod" sind eine aufregende Neuentdeckung und noch bis Ende Januar 2014 zu Gast in der SCHIRN.