"Versorgungssicherheit mit Medikamenten ist dramatisch gefährdet"

22. Juni 2020

Noch immer sind die chemische und pharmazeutische Industrie ein Motor des Fortschritts und des Wohlstands. Doch in den letzten Jahrzehnten wurde die Produktion immer mehr ins Ausland verlagert. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern nahezu für die gesamte westliche Welt. Damit ergeben sich fatale Abhängigkeiten, sagt Prof. Dr. Till Opatz vom Department Chemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) – die Versorgung mit Medikamenten sei nicht mehr gesichert.

Prof. Dr. Till Opatz entschuldigt sich: Er muss eben noch ein paar Worte mit einem Gesprächspartner in Südafrika wechseln, doch dann hat er ganz sicher Zeit für das Interview. "Wir wollen mit einer Initiative die lokale Versorgung in Afrika sicherstellen", skizziert der Chemiker wenig später mit wenigen Worten das eben besprochene Projekt. "Konkret handelt es sich um grundlegende Chemikalien für Sonnenschutzmittel, Farbstoffe und einiges mehr. Wir fragen uns, wie wir diese Versorgung unabhängig vom Erdöl hinbekommen können." Abfälle aus der Cashewkern-Industrie scheinen als Alternative vielversprechend.

"Aber uns geht es ja heute um etwas anderes", leitet Opatz über. Tatsächlich ist jenes Thema, das ihn mit Blick auf Deutschland und die gesamte westliche Welt umtreibt, gar nicht so weit von dem südafrikanischen Problem entfernt: "Unsere Versorgungssicherheit mit Medikamenten ist dramatisch gefährdet. Das wissen wir schon länger, aber die Corona-Krise macht es uns nun noch mal sehr deutlich." Gemeinsam mit seinen Kollegen Dr. Kai Donsbach, Chief Science Officer bei der Firma Pharmazell, und Prof. Manfred Psiorz, ehemals ebenfalls in der Pharma-Industrie tätig und aktuell Honorarprofessor an der Technischen Universität Kaiserslautern, hat sich Opatz intensiv mit diesem Thema beschäftigt.

Arzneimittel werden nicht mehr geliefert

"2018 und 2019 sah es so aus, dass bereits zahlreiche wichtige Medikamente einfach nicht mehr an unsere Apotheken ausgeliefert wurden, Tendenz stark steigend." Das Problem entstand, weil immer mehr Produktionskapazitäten ins Ausland verlagert wurden, besonders nach Indien und China. Dort sind die Lohnkosten niedriger und Sicherheits- sowie Umweltstandards liegen ebenfalls zum Teil noch weit unter dem europäischen Niveau. Doch die Länder lieferten nicht.

Zwar scheine es auf den ersten Blick, als würde gerade Deutschland noch viele seiner Medikamente selbst produzieren, als würde also alles zufriedenstellend laufen. Doch dieser erste Eindruck täuscht, meint Opatz. "Das ifo Institut hat sich die Außenhandelsbilanz angeschaut und festgestellt, dass wir im Pharma-Sektor mehr Werte exportieren als importieren. Daraus zieht man den Schluss, dass es keine dramatischen Abhängigkeiten gibt. Doch das ist zu kurz gedacht, denn wir könnten zum Beispiel auch Autos bauen, ohne das Metall dafür zu haben. Wenn allerdings die Lieferung von Metall nicht mehr gegeben ist, bricht diese Autoindustrie schlagartig zusammen."

Medikamente werden in vielen Schritten hergestellt, mitunter sind zehn bis fünfzehn Synthesestufen notwendig. "Allenfalls die letzten drei dieser Produktionsstufen finden wir noch bei uns im Land, alles andere ist größtenteils abgewandert", sagt Opatz. "Besonders die Grundchemikalien, auf denen alles aufbaut, stellen wir kaum noch selbst her. Die Basis-Chemie, die in den westlichen Ländern lange ein treibender Motor des Wohlstands war, die BASF, Bayer oder Hoechst groß machte, hat auf verschiedensten Wegen das Land verlassen. Derzeit haben wir gar nicht mehr die Möglichkeit, die meisten Basisstoffe in größerem Maßstab herzustellen, selbst wenn wir es wollten."

"Wir gehen bei jeder künftigen Krise in die Knie"

Dasselbe gelte für die anderen europäischen Länder und für die USA. "Wir begeben uns damit in eine fatale Abhängigkeit." Wie die Folgen aussehen können, stellt Opatz an einem aktuellen und sehr augenfälligen Beispiel dar: "Mittlerweile wissen wir, dass Gesichtsmasken einiges bringen, wenn es darum geht, die Verbreitung von Coronaviren zu bremsen. Selbst die WHO räumt das neuerdings ein. Man hätte auch darauf kommen können, dass bei einer viralen Lungenerkrankung Tröpfchen oder Aerosole eine wichtige Rolle spielen. Wir hätten also schon früh solche Masken einsetzen sollen, aber wir haben keine gehabt." China als Großproduzent etwa brauchte seine Masken selbst und lieferte nicht mehr im gewünschten Umfang. Eigene Bestände waren kurz zuvor erst als Unterstützung an China geliefert worden.

"Bei solch einer Unterbrechung der Versorgungsketten sind wir neuerdings machtlos", warnt Opatz. "Wir gehen bei jeder künftigen Krise in die Knie." Als Indien im Februar 2020 zeitweise Ausfuhrverbote für eine ganze Reihe Medikamente, darunter Paracetamol und Antibiotika, verhängte, machte sich das schmerzhaft bemerkbar. Denn bereits seit 2016 werden in Deutschland keine Antibiotika-Wirkstoffe mehr hergestellt, nur das Pressen von Tabletten mit eingekauftem Wirkstoff findet noch statt.

Dem Chemiker ist klar, dass auch die Mechanismen des Marktes dazu zwangen, Produktionen ins Ausland zu verlegen. Der Kostendruck bestimmte das Handeln. "Aber ist das ein nachhaltiger Weg, wenn wir es global betrachten? Wir schützen unsere Umwelt, aber wie steht es damit an den Produktionsstätten in China oder Indien? Wie geht es den Arbeitskräften dort? Welchen Gefährdungen sind sie ausgesetzt? Und weiter: Wie steht es um die Qualität der Produkte? Ist ihre Herstellung wirklich sichergestellt? Wir wissen oft nicht, wer genau eine gewisse Chemikalie herstellt. Was, wenn sie nur von einem einzelnen Produzenten geliefert wird und der seine Tore plötzlich aus irgendeinem Grund schließen muss?"

Eine Versorgungssicherheit sei nur wiederzuerlangen, wenn Produktionen ins Land oder zumindest in die EU zurückgeholt würden – und zwar mit neu entwickelten, umweltfreundlichen Verfahren, da ist sich Opatz sicher. Doch er sieht auch, dass die Bedingungen dafür alles andere als ideal sind. "In den letzten drei Jahrzehnten wurden Regelwerke verabschiedet, die eine Produktion von Arzneimitteln in Deutschland stark verteuern und unter strenge Kontrollen stellen. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass die Zahl der Kontrolleure bei uns stark gestiegen ist – in jedem Bereich. Dieser Wunsch nach Kontrolle ist irgendwo verständlich, doch dadurch geht eben leider auch viel verloren."

Hürden für Industrie und Forschung

Zudem würden den Universitäten, die gerade in der Chemie und der Pharmazie immer ein wichtiger Motor für Innovationen waren, die Wege verbaut. "Wir können nach wir vor ein innovationsstarker Partner für die Pharma-Industrie sein, doch solche Kooperationen werden hierzulande leider inzwischen mit Misstrauen betrachtet. Aktuell ist es für ein Unternehmen einfacher, eine Vereinbarung mit einer chinesischen als mit einer deutschen Universität zu treffen." Und solche Kooperationen oder aber Auftragsforschung bei einem der großen darauf spezialisierten chinesischen Unternehmen zählten dann in der Statistik als deutsche Ausgaben für Forschung und Entwicklung, so dass die Abwanderung nicht auffalle.

"Ich glaube, wir liegen unter den wissenschaftlichen Disziplinen, die wichtige Beiträge für das menschliche Wohlergehen geliefert haben, noch immer an erster Stelle", so der Chemiker Opatz. "Doch ich habe den Eindruck, dass im Moment von der politischen Seite her die Luft raus ist." Er konstatiert eine tiefe Verunsicherung: "Nicht nur in den unterschiedlichen europäischen Ländern, sondern auch in Deutschland selbst und sogar unter den einzelnen Universitäten werden akademische Kooperationen mit der Industrie sehr unterschiedlich gehandhabt. Es fehlen Standards und politischer Wille. Ich würde mir wünschen, dass es bundeseinheitliche Musterverträge gäbe, damit die rechtliche Unsicherheit endet. Tatsächlich gibt es so etwas derzeit nicht. Im Moment ist es so, als würden Sie auf der Autobahn fahren und Sie sähen nur Verkehrsschilder ohne Aufschrift. Sie wissen, dass es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Sie wissen jedoch nicht, welche. Aber Sie können sich ganz sicher sein, dass kontrolliert und bestraft wird."

Das Telefon klingelt. Opatz hält inne. "Südafrika ruft zurück", meint er. Da muss er nun doch dringend rangehen. Schließlich geht es auch dort um zwei wichtige Themen: um Umweltschutz und Versorgungssicherheit.

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