Vom ungeheuren Nutzen des Plastiks

14. Juni 2021

Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist seit ihrer Wiedereröffnung eine Hochburg der Polymerforschung: 1946 wurde mit der Berufung prominenter Wissenschaftler ein erster Schwerpunkt geschaffen, 1984 öffnete das Max-Planck-Institut (MPI) für Polymerforschung seine Pforten auf dem Mainzer Campus und 2008 konnte als Exzellenzprojekt die Graduiertenschule "Materials Science in Mainz" realisiert werden. Prof. Dr. Hans Wolfgang Spiess blickt zurück auf diese Entwicklung, die er fast dreißig Jahre lang als Direktor am MPI für Polymerforschung begleitete und mitgestaltete.

"Bei Polymeren denkt man heute in erster Linie an Umweltprobleme", stellt Prof. Dr. Hans Wolfgang Spiess fest. "Aber die Entwicklung der Kunststoffe brachte Deutschland in der Nachkriegszeit einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung. Man kam weg vom Stahl. Man forschte an neuen, leichteren und flexibleren Materialien. Das war ein gewaltiger Fortschritt, der nicht nur unsere Industrie gründlich veränderte."

Der 78-Jährige sitzt auf der Terrasse seines Hauses im Mainzer Stadtteil Bretzenheim. Hier kann er trotz der Corona-Pandemie entspannt und ohne Maske reden, er kann reichlich Abstand halten und zugleich hinausschauen in seinen Garten: Hier brummen Hummeln um bunte Blütenstände und in den Bäumen zwitschern die Vögel. "Unser Problem mit dem Plastik ist vor allem ein Müllproblem", fährt Spiess fort. "Plastik ist zu einem Wegwerfprodukt geworden, die Leute schmeißen es einfach massenhaft in den Abfall. Aber wenn man sich zum Beispiel klar macht, um wie viel schwerer unsere Autos wären, wenn wir sie allein aus Metall bauen würden, wie viel mehr Sprit sie verbrauchen würden, dann bekommt man zumindest eine Ahnung vom ungeheuren Nutzen des Plastiks."

Pioniere der interdisziplinären Zusammenarbeit

Spiess räumt mit einem leisen Lächeln ein: "Im Grunde bin ich gar kein Fachmann für Polymere. Ich habe im Bereich Spektroskopie promoviert." Das war 1968 an der Goethe-Universität in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main, wo er Chemie studierte. Danach ging er in die USA an die Florida State University. Weitere Stationen seiner Karriere waren das Heidelberger Max-Planck-Institut für medizinische Forschung und die JGU, wo er sich 1978 habilitierte. Es folgten Professuren an den Universitäten Münster und Bayreuth, bevor er 1984 als Direktor an das frisch gegründete Max-Planck-Institut für Polymerforschung kam und damit auf den Mainzer Campus zurückkehrte. In den folgenden Jahrzehnten sollte er das Gesicht eines interdisziplinären Forschungszweigs mitprägen, der für die JGU bis heute von herausragender Bedeutung ist: Spiess begleitete die Entwicklung der Materialwissenschaften in Mainz und trug seinen ganz eigenen Teil dazu bei. Doch er richtet seinen Blick noch weiter zurück und schaut auf die Wiedereröffnung der Mainzer Universität im Jahr 1946.

"Damals gab es in Rheinland-Pfalz keine Universität, also musste eine gegründet werden. Man hat dann etwas sehr Modernes gemacht: Es wurden Schwerpunkte gesetzt – in der Medizin, der Kernchemie und der Polymerforschung, die noch in den Kinderschuhen steckte." Mit Günter Viktor Schulz und Werner Kern kamen zwei bedeutende Chemiker als Professoren an die JGU. "Beide hatten mehrere Jahre bei dem späteren Nobelpreisträger Hermann Staudinger in Freiburg geforscht, der erstmals nachweisen konnte, dass lange Kettenmoleküle existieren können und dass es sich dabei nicht um Aggregate von Teilchen handelt." Das war eine grundlegende Erkenntnis für die Polymerforschung, denn diese Kettenmoleküle sind nichts anderes als einfache Polymere. Schulz und Kern wurden in der Folge vom Experimentalphysiker Herbert Arthur Stuart unterstützt.

"Komplexe Gebiete wie die Materialforschung erfordern interdisziplinäre Zusammenarbeit", konstatiert Spiess. "In Mainz arbeiteten nun Fachleute aus der synthetischen Chemie, der physikalischen Chemie und der Physik Hand in Hand. Die Stadt wurde bundesweit als Zentrum der Polymerforschung bekannt."

JGU gewinnt Rennen um Max-Planck-Institut

Das half, als es einige Jahrzehnte später darum ging, ein eigenes Max-Planck-Institut für Polymerforschung zu schaffen: In den 1980er-Jahren befand sich die Kunststoffindustrie in einem bis dahin nie dagewesenen Aufschwung. Der Bedarf an Fachleuten, aber auch an Grundlagenforschung auf diesem Gebiet war entsprechend hoch. "Es sollte die vorletzte MPI-Gründung vor der Wende sein und um den Standort entbrannte ein bundesweiter Wettbewerb. Bayreuth hatte ebenfalls einen Schwerpunkt für Polymerforschung, es war ein vielversprechender Kandidat. Aber Mainz engagierte sich sehr. Sowohl der damalige JGU-Präsident Klaus Beyermann als auch sein Vizepräsident Jürgen Zöllner machten sich sehr in dieser Sache stark. Sie versprachen sich viel von der engen Zusammenarbeit der Universität mit einem neuen MPI. Und nicht zuletzt die Landesregierung zog mit."

1984 wurde das MPI für Polymerforschung auf dem Campus der JGU eröffnet. Mit den Gründungsdirektoren Erhard Fischer und Gerhard Wegner kamen ein physikalischer Chemiker und Physiker sowie ein Fachmann für synthetische Polymerchemie nach Mainz. Zugleich wurde mit Spiess ein weiterer Direktor berufen.

"Ich hatte bis dahin nie groß etwas mit Polymeren zu tun gehabt", betont Spiess noch einmal. "Aber diese Berufung war typisch: Man holte sich Expertise über die Fächergrenzen hinweg." Der Chemiker war ein anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Spektroskopie. Er entwickelte immer neue Magnetresonanztechniken, die es ihm erlaubten, Struktur und Verhalten von Polymeren zu untersuchen. "Durch die Diskussionen am Institut erkannte ich, welche Fragen in der Polymerforschung offen lagen, und überlegte, wo ich etwas beitragen konnte. Zum Beispiel fand ich einen Weg, die langsame Dynamik in Polymeren zu messen. Das war bis dahin ein Problem. Mir gelang es, mit Hochfrequenzimpulsen eine Imprägnatur ins Material zu geben. Dann machte ich Pause und schaute später, was daraus geworden ist." Was so salopp klingt, war tatsächlich ein entscheidender Durchbruch. "Komplexe Materialien zu charakterisieren, erfordert eine Vielfalt von Methoden", meint Spiess. Er steuerte einen bedeutenden Teil zu dieser Vielfalt bei.

Graduiertenschule Materials Science und Max Planck Graduate Center

Die Arbeitsweise am MPI, die durch eine enge Kooperation mit der JGU geprägt war, lag ihm. "Hier in Mainz habe ich enorm davon profitiert, dass es mir als Chemiker erlaubt war, auch Physikdiplomandinnen und -diplomanden auszubilden sowie Doktorandinnen und Doktoranden zu betreuen", erzählt Spiess. "In meiner Arbeitsgruppe kamen 40 Prozent der Fachkräfte aus der Physik, 60 aus der Chemie. Diese Zusammensetzung war nicht nur für unsere Arbeit bereichernd, sie war auch für diejenigen extrem hilfreich, die später in die Industrie gingen. Denn dort kamen sie ebenfalls in interdisziplinären Gruppen zusammen. Chemiker mussten mit Physikern kommunizieren und meine Leute konnten sagen: 'Wir haben drei Jahre mit Physikern geredet, wir können das längst. Wir verstehen uns, wir nehmen uns gegenseitig ernst.'" Spiess betont: "Es ist keine triviale Sache, dass die JGU es ermöglichte, Disziplinen auf diese Weise zusammenzubringen."

Das MPI für Polymerforschung war von Beginn an stark in die Lehre eingebunden, das unterschied es von vielen anderen MPIs. "Auch dies muss ich der JGU hoch anrechnen: Man hatte früh erkannt, dass der Nachwuchs sehr viel leisten kann, und wir hatten dementsprechend einen beträchtlichen Durchsatz an jungen Leuten, die später auch die Universitätslandschaft unsicher machten. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Professuren von unseren Leuten in Deutschland und weltweit besetzt wurden, aber es sind viele."

Da war es nur folgerichtig, dass 2008 die Graduiertenschule "Materials Science in Mainz" (MAINZ) und 2009 das "Max Planck Graduate Center mit der JGU" (MPGC), dessen Gründung Spiess wesentlich vorantrieb, eröffnet wurden. In diesen Exzellenzprojekten kamen mehr als 100 Doktorandinnen und Doktoranden aus aller Welt zusammen, um Forschung auf höchstem Niveau zu betreiben – natürlich wieder mit einem breit gefassten, interdisziplinären Ansatz. Diese Graduiertenschulen stellen die Kooperation zwischen JGU und MPI noch einmal auf festere institutionelle Beine. "Ich erinnere mich, wie jemand in einer Sitzung einwendete: 'Warum brauchen wir die Graduiertenschule? Wir bilden doch schon längst gemeinsam Doktorandinnen und Doktoranden aus?' Darauf erwiderte der damalige JGU-Vizepräsident Wolfgang Hofmeister: 'Ja, aber jetzt dürfen wir es ganz offiziell.'"

Statt Ruhestand Aufbauarbeit in Korea

Mainz ist und bleibt ein Zentrum der Polymerforschung – oder der Materialwissenschaften – mit weltweiter Ausstrahlung. Und zu diesem Erfolg trug Spiess beträchtlich bei. 2012 wurde er emeritiert. "Seitdem habe ich mich aus der Forschung zurückgezogen", sagt er. "Es ist einfach zu aufwändig, sich auf diesem komplexen Gebiet mit seiner rasanten Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Dafür gebe ich etwas von den Erfahrungen, die ich im Management gesammelt habe, weiter." Unter anderem leitete er "Exploratory Round Table Conferences", auf denen die Max-Planck-Gesellschaft und die chinesische Akademie der Wissenschaften aktuelle Themen wie Big Data oder personalisierte Medizin erörtern. Zudem half er, in Korea etwas Ähnliches wie die MPIs einzurichten. "Man beklagte dort, dass es an Grundlagenforschung fehlte. Also gründete man nach unserem Vorbild das Institute of Basic Science." Dort saß Spiess bis vor kurzem in leitender Position im Evaluierungskomitee.

Es ließe sich noch einiges erzählen über Polymere, über Materialwissenschaften in Mainz oder über Spiess selbst, seine Auszeichnungen und seine Leistungen. Der 78-Jährige lehnt sich zurück in seinen Gartenstuhl, schaut ins Grüne und meint zum Schluss: "Als Akademiker, als Hochschullehrer und Forscher habe ich so viele interessante Menschen kennen lernen dürfen – ob Nobelpreisträger, Politiker oder junge Doktoranden. Das habe ich immer als großes Privileg empfunden und dafür bin ich dankbar."

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