"Wir müssen raus aus unserer Komfortzone"

18. Januar 2019

Prof. Dr. Jairo Sinova kam 2014 mit einer Alexander von Humboldt-Professur von der Texas A&M University an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Der gebürtige Spanier gehört zu den weltweit führenden Forschern auf dem Gebiet der Spintronik. Unter anderem baute er in Mainz das Spin Phenomena Interdisciplinary Center (SPICE) und die INSPIRE Group (Interdisciplinary Spintronics Research) auf.

"Ich habe gerade meinen ersten Vortrag auf Deutsch gehalten", erzählt Prof. Dr. Jairo Sinova, während er durch den Flur zu seinem Büro läuft. "Es war nicht einfach, aber es hat funktioniert."

Banner und Poster schmücken die Wände des Ganges. Das Logo von SPICE ist allgegenwärtig: Jairo Sinova gründete das interdisziplinäre Zentrum für Spin-Phänomene, als er 2014 an die JGU kam. Verschiedene Veranstaltungen die am SPICE durchgeführt wurden, sind mit Plakaten vertreten. "Wir bemühen uns, ungewöhnliche Motive zu wählen, damit die Leute hinschauen", sagt Sinova. Auf einem der Poster ist ein niederländisches Ölgemälde von einer brennenden Mühle zu sehen – als ironisches Zitat zum Spin, dem Drehimpuls von Elementarteilchen. Wenig später ein weiteres Poster mit auffälligem Motiv. Unter dem Titel "Antiferromagnetic Spintronics" ist ein Demonstrant mit Megafon zu erkennen. Hinter ihm streckt ein Mann ein großes Plakat in die Höhe, es zeigt einen rot durchgestrichenen Magneten. Hier kündigt sich eine revolutionäre Computertechnologie an, dazu aber später noch mehr.

Interdisziplinäres Arbeiten

2014 kam Jairo Sinova von der Texas A&M University an die JGU. Er war mit einer Alexander von Humboldt-Professur ausgezeichnet worden, dem höchstdotierten deutschen Forschungspreis. Über diese Professuren sollen internationale Spitzenforscher für deutsche Universitäten gewonnen werden.

Bereits 2003 hatte sich Sinova einen Namen gemacht, als er den intrinsischen Spin-Hall-Effekt vorhersagte. Seitdem gehört er zu den angesehensten und bekanntesten theoretischen Physikern auf dem Gebiet der Halbleiter-Spintronik. Davon erzählt er allerdings nicht viel, er deutet nur nebenher an, dass ihm als Juniorprofessor ein Durchbruch gelungen sei, der neue Perspektiven eröffnete: "I created a new field."

"Als ich nach Mainz kam, fühlte ich mich noch mal wie am Anfang. Ich wollte sehen, ob mir noch ein zweiter Durchbruch gelingen könnte." Sinova etablierte diverse neue Forschungsstrukturen an der JGU. Darunter SPICE und die INSPIRE-Gruppe, die er beide leitet. Diese Einrichtungen tragen die Interdisziplinarität nicht nur im Namen – hier wird sie auch gelebt: Forscherinnen und Forscher aus der Chemie, der Biologie, den Materialwissenschaften, der Physik, aus Theorie und Praxis arbeiten eng zusammen. "Wenn ich einen Durchbruch erzielen will, muss ich interdisziplinär arbeiten", betont Sinova mit Nachdruck. "Wir müssen raus aus unserer Komfortzone, um etwas zu erreichen."

Computertechnologie in der Sackgasse

Mit 16 Jahren verließ Jairo Sinova seine Heimat Spanien und reiste im Rahmen eines Schüleraustauschs in den US-Bundestaat Texas. "Zwölf Monate waren geplant, doch ich blieb 25 Jahre. Englisch wurde zu meiner zweiten Muttersprache." Mit 42 brach Sinova dann ein zweites Mal auf, diesmal nach Deutschland. Noch ist die neue Sprache ihm nicht ganz so vertraut. "Deutsch ist schwer, ich mache noch viele Fehler", gesteht er, "aber ich kann mich gut verständigen." Wenn er allerdings von seiner Forschung erzählt, wechselt er gern ins Englische.

Sein Forschungsgebiet, die Spintronik, befasst sich mit verschiedenen Möglichkeiten, die Eigenschaft von Elektronen geschickt zu nutzen. Sie transportieren nicht nur elektrische Ladungen, sondern haben zugleich eine weitere messbare Größe, den sogenannten Spin. Da dieser Spin in zwei Varianten vorkommt – up oder down –, eignet er sich als binärer Informationsträger.

"Die gegenwärtige Technologie in Computern hat ein Level erreicht, auf dem es nicht mehr weitergeht. Sie ist ausgereizt", erklärt Sinova. Computer verschlingen Unmengen von Energie. "Wenn Sie 30 Anfragen bei Google starten, dann verbrauchen sie so viel Energie, als hätten sie einen Liter Wasser zum Kochen gebracht. Und allein bei Google gehen pro Tag 3,5 Billionen solcher Anfragen ein." Der Physiker hat noch ein weiteres Beispiel parat: "Das menschliche Gehirn braucht 20 Watt, um ein Gesicht zu erkennen, der Computer braucht eine Million."

Zudem kann der Computer in Sachen Tempo nicht immer mithalten. "Wenn ich zum Beispiel Daten nach Amerika schicke, geschieht das über Kabel mit Lichtimpulsen. Dort angekommen, müssen sie jedoch für die elektronische Bearbeitung gebremst werden. Es entsteht ein Stau. Elektronische Vorgänge sind zwar schnell, aber das Licht ist viel schneller."

Antiferromagnetische Materialien

Beides ließe sich mit antiferromagnetischen Materialien beheben, Materialien die nach außen hin scheinbar keine magnetischen Eigenschaften besitzen. "Wir haben 2014 ihr Potenzial vorausgesagt, ein Jahr, bevor es tatsächlich nachgewiesen wurde. Das war aufregend." Die Prozesse laufen bei deutlich niedrigerem Energieverbrauch 1.000 Mal schneller ab als in einem herkömmlichen Computer.

"Im binären System rechnen wir nur mit eins oder null, mit ja oder nein. Bei der jetzigen Forschung bewegen wir uns aber im Feld der Quantenmechanik und so ermöglichen unsere Materialien noch einen dritten Zustand, eine Art 'vielleicht'. Damit arbeiten sie ähnlich effizient wie die Synapsen im menschlichen Gehirn. Wir könnten in der Zukunft womöglich einen Computer schaffen, der so schnell lernt, dass er kurz nach dem Einschalten bereits beurteilen kann, ob er uns braucht oder nicht. Ob wir unnütz sind oder bleiben sollen. Das ist aufregend und beängstigend zugleich."

Wer auf solchen Gebieten forscht, darf sich nicht hinter den Grenzen seines Faches verstecken. "Wir müssen Fachleute aus allen Gebieten holen, um die Entwicklung zu begleiten. Sie können auch aus der Anthropologie oder der Philosophie kommen. Wir brauchen den Austausch." Sinova fördert ihn auf allen Ebenen. Über SPICE bietet er interdisziplinär besetzte Workshops und Konferenzen an, als Fellow des Gutenberg Forschungskollegs (GFK) sucht er den interdisziplinären Dialog.

"Vor Kurzem erst habe ich elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ein Weingut eingeladen. Es war nicht einfach nur ein Workshop, bei dem wir uns ausschließlich für Vorträge treffen und wieder nach Hause gehen. Wir haben mehrere Tage miteinander verbracht, uns kennengelernt und miteinander ausgetauscht. So etwas brauchen wir häufiger."

Mainz in den Fokus gerückt

Jairo Sinova hat in Mainz seinen zweiten Durchbruch geschafft. "Früher fragten mich viele Kollegen: 'Mainz, wo ist das? Kenne ich nicht'. Das hat sich geändert. Inzwischen haben Fachleute aus aller Welt die Stadt auf dem Schirm. Sie kommen hierher, weil sie SPICE kennen, weil sie wissen, was wir leisten. Ähnliche Einrichtungen gibt es nur noch in Kalifornien und in den Niederlanden."

Der Physiker selbst hat sich in die Region verliebt. "Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, hier sei alles grimmig und streng, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen sind offen und freundlich. Sie haben Humor. Die Landschaft ist schön und ich habe den Wein schätzen gelernt. Ich genieße das alles. Für die Alexander von Humboldt-Stiftung bin ich eine tolle Werbung: Wenn ein Deutscher sagt, hier lässt es sich gut leben, zählt das im Ausland wenig. Aber wenn ich als Spanier sage, die Lebensqualität in Mainz ist hoch, dann wird das wahrgenommen."

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