Die Rebellion der Ameisen

8. Dezember 2012

Dass Ameisen andere Ameisen als Sklaven halten, ist schon länger bekannt. Doch Prof. Dr. Susanne Foitzik vom Institut für Zoologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat festgestellt, dass diese Sklaven durchaus das Zeug zur Rebellion haben. Und sie kann erklären, wie sich diese Fähigkeit im Lauf der Evolution entwickelt hat.

Ameisen, überall Ameisen. In der Abteilung für Evolutionsbiologie scheinen sie allgegenwärtig. Auf Aquarellen schmücken sie den sonst so kahlen Korridor: Das da könnte eine Bulldoggenameise sein, dies zwei Blattschneiderameisen. Selbst die Türschilder der Büros zieren Ameisen. "Auf meinem ist es eine Sklavenhalterameise – natürlich“, meint Prof. Dr. Susanne Foitzik lächelnd.

Seit 14 Jahren beschäftigt sich die Evolutionsbiologin mit diesen Tieren. Parasitär lebende Sklavenhalter gibt es öfter unter den Ameisen, das ist spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt. Doch 2009 entdeckte Foitzik im US-Bundesstaat New York ein Phänomen, das bisher noch nicht beobachtet worden war: Die Sklaven wehrten sich. Sie töteten den Nachwuchs ihrer Unterdrücker und hielten so deren Nester klein.

Sklavenhalter in der Nussschale

"Das Problem ist: Wie kann so etwas entstehen? Die Sklaven haben ja keine Nachkommen, sie kehren auch nicht in ihr altes Nest zurück. Das ist sowieso meist zerstört." Sie scheinen also keinen Nutzen aus ihrem Verhalten zu ziehen. Ein Unding nach den Regeln der Evolution.

Protomognathus americanus ist nur wenige Millimeter groß. Auch die Nester dieser Ameisenart sind klein. Sie finden in einer hohlen Eichel Platz oder in einer Nussschale. Bis zu Foitziks Beobachtungen nahm die Fachwelt an, dass solche Nester nur sehr vereinzelt in Ameisengemeinschaften vorkommen. Für die New Yorker Gemeinschaft aber stimmte das nicht: Jedes zehnte gehörte den Sklavenhaltern. Der Evolutionsdruck auf die anderen Ameisen war also groß. Die Gefahr, den Parasiten zum Opfer zu fallen, war immens.

"Die Sklavenhalterameisen unternehmen fünf bis zehn Raubzüge im Jahr", erklärt Foitzik. Ziel sind die Nester der Ameisenart Temnothorax longispinosus. Die Sklavenhalter töten die erwachsenen Tiere und nehmen die Brut mit in ihr Nest. Einmal geschlüpft, folgen die Sklaven dann ihrem üblichen Brutpflegeverhalten. Sie arbeiten für ihren Parasiten und ziehen dessen Nachkommen auf.

Sklaven pflegen die fremde Brut …

Der Sklavenhalter Protomognathus americanus selbst wäre dazu längst nicht mehr in der Lage. Sein Nest besteht aus der Königin, drei bis sechs Sklavenhaltern, die im Grunde nur für die Raubzüge taugen, und etwa 30 Sklaven, die fast alle anderen Arbeiten verrichten.

Rund 2.000 Nester von Protomognathus americanus und Temnothorax longispinosus haben Foitzik und ihre Mitarbeiter im Sommer 2011 in 15 Bundesstaaten der USA und Kanada gesammelt, unter anderem in New York, West Virginia und Ohio. Ein wenige Zentimeter messender Objektträger beherbergt je ein Nest. Foitzik kann ihn problemlos unter das Mikroskop schieben. Die Nestkammer selbst ist kleiner als eine Briefmarke. "Sehen Sie die Sklavenhalter? Die sind etwas größer und haben breitere Köpfe." Schwierig, zumindest ohne Mikroskop.

... aber nur, solange die Chemie stimmt

Die Sklaven also pflegen die fremde Brut als wäre es die eigene. Sie scheinen erst einmal keinen Unterschied zu erkennen. Doch wenn sich die Larven verpuppen, ändert sich die Situation drastisch: Die Sklaven vernachlässigen die Puppen oder reißen sie sogar auseinander. In den in New York beobachteten Kolonien überleben im Durchschnitt nur 49 Prozent der Sklavenhalter-Puppen.

"Töte alles, was falsch riecht." Das ist eine der wichtigsten Regeln in der Welt der Ameisen. Die Puppen haben ein chemisches Profil auf ihrer Haut. Die Sklaven registrieren, dass die Puppen nicht wie ihre eigenen riechen.

Foitziks Fokus liegt auf der evolutionären Wechselwirkung, der Koevolution, verschiedener Arten. Eine Art übt jeweils Druck auf andere aus. Je größer der Druck, desto größer die Notwendigkeit, darauf zu reagieren, um zu überleben. In New York tritt Protomognathus americanus häufig auf. Der evolutionäre Druck ist also groß für die Wirtsart Temnothorax longispinosus.

Geflecht aus Strategien und Gegenstrategien

"Die Ameisen benachbarter Wirtsnester sind oft eng miteinander verwandt", erklärt die Evolutionsbiologin. Wenn also die versklavten Ameisen durch die Puppentötung die Nester ihrer Parasiten klein halten, nutzt das zwar nicht mehr dem eigenen Nest, das ja zerstört wurde. Es bringt aber immerhin einen Vorteil für die nahe verwandten Ameisen in den benachbarten Nestern: Der Bedarf an Sklavennachschub wird geringer, die Raubzüge werden seltener.

Strategien und Gegenstrategien bestimmen die Koevolution der Ameisen. Je mehr Foitzik ins Detail geht, desto komplexer und faszinierender wird es. So hat sie regionale Unterschiede ausgemacht: "Im Bundesstaat New York treten die Wirtsameisen den Sklavenhaltern aggressiver gegenüber." Sie wehren sich rabiater und können so mehr von ihrer Brut in Sicherheit bringen. In West Virginia dagegen kommen noch öfter Sklavenrebellionen vor als in New York.

Und um die Sache noch weiter zu treiben: Protomognathus americanus passt den Geruch seiner Puppen möglichst an den Geruch der Puppen seines Wirts an. Denn je weniger sich die chemischen Profile unterscheiden, desto schwieriger wird es mit dem Erkennen und damit mit der Rebellion.

Von Ameisen und Menschen

"Alle Ameisen leben in Sozialsystemen", erklärt Foitzik. "Sie haben viele Fähigkeiten entwickelt, die der Mensch auch hat, bloß auf einem ganz anderen Weg. Es gibt Ackerbau – einige Arten züchten Pilze in ihren Nestern. Es gibt nomadische Völker, die mit Blattläusen als Vieh umherziehen. Es gibt Kriegsführung. Dieses Spannungsfeld zwischen Ähnlichkeiten und Unterschieden fasziniert mich."

Das ist unschwer zu erkennen. Neben den Fotos ihrer Kinder findet sich auf ihrem Schreibtisch eine Ameisenskulptur. Ein gern genommenes Motiv, wenn die Presse kommt. Im Regal steht die einschlägige Literatur, natürlich mit Ameisen auf dem Cover – und zuletzt geht es wieder durch den Korridor mit den Aquarellen. Von welchem Künstler sind die eigentlich? "Die sind von mir", antwortet Foitzik etwas zögernd. "Es ist sonst so kahl hier."