Vom Zukunftsglauben zur Zukunftssorge

6. Mai 2015

Am dritten Abend der Vorlesungsreihe "Erinnern und Vergessen – Zur Konstruktion von Vergangenheitshorizonten" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ging es um "Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne". Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann, die gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Assmann die 16. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur bestreitet, skizzierte einen fundamentalen Wandel des Zeitempfindens in den 1980er-Jahren.

"Es gibt im Grunde nur ein Problem in der Welt und es hat diesen Namen: Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?" Diese Fragen stellt Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman "Dr. Faustus".

Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann zitiert eine mögliche Antwort des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1909. Doch bevor sie das tut, schaut die Literaturwissenschaftlerin hinüber zu ihrem Mann. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jan Assmann, Archäologe und Ägyptologe, sitzt in der ersten Reihe im RW1, dem größten Hörsaal auf dem Gutenberg-Campus. "Jan muss jetzt mal weghören", meint sie und beginnt: "Wir wollen dieses Land vom Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien." Ballast muss über Bord, damit Neues gedeiht.

Bruch und Modernisierung

Am dritten Abend der Vorlesungsreihe "Erinnern und Vergessen – Zur Konstruktion von Vergangenheitshorizonten" beschäftigt sich Aleida Assmann mit dem "Aufstieg und Fall des Zeitregimes in der Moderne". Aus Zitaten verschiedenster Couleur webt sie ein breites Panorama.

Die Futuristen propagierten den radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Etwas Neues sollte geschaffen werden. Dieser Begriff des Brechens beschäftigt Assmann. Doch nicht nur die Futuristen führten ihn im Munde, er schien allgegenwärtig. Er wendet sich gegen die Weitergabe von Überliefertem, gegen das Fortwirken von Geschichte. "Der Impuls des Brechens lässt sich im Wort Modernisierung zusammenfassen, er gehört zum Wertfundament der Moderne." Der Blick ist auf das Kommende gerichtet. "Die Kraft zum Brechen entsteht in einem starken Zukunftsglauben."

Unter einem Zeitregime versteht Assmann vereinfacht formuliert eine kulturell fundierte, in den Institutionen eines Staates und in den Gefühlen seiner Mitglieder verankerte Zeitvorstellung, an der sich das Handeln ausrichtet. "Das moderne Zeitregime stellte man sich in der Form eines Pfeils vor, der irreversibel in die Zukunft weist." Es wendet sich radikal von älteren Wertvorstellungen ab und bricht mit kulturellen Traditionen. "Das Vergangene verwandelt sich in einen großen Abfallhaufen."

Es steht nicht mehr der Erfahrungsraum im Vordergrund, sondern der Erwartungshorizont. "Er wird zum viel, ja sogar alles versprechenden Möglichkeitsraum."

Kein Platz für die Gegenwart

"Die Zeit selbst wird zum Quell der Kreativität. Die neue Zeit lässt die Vergangenheit hinter sich." Assmann verfolgt diese Geisteshaltung durch die Jahrhunderte: Sie manifestierte sich im Geniekult des Sturm und Drang oder in der Favorisierung des Experiments durch die Wissenschaft. Gesellschaftlich bedeutete sie: Junge, revoltierende Generationen übernahmen die Macht von den alten.

Assmann konstatiert ein Problem dieses Zeitregimes, das sie über eine Grafik veranschaulicht: Zwei Kegel treffen mit ihren Spitzen aufeinander. Der eine Kegel weitet sich in Richtung Vergangenheit – das ist der Erfahrungsraum. Der andere, der Erwartungshorizont, öffnet sich in Richtung Zukunft. Die Gegenwart ist jener verschwindend winzige Punkt der Berührung der beiden Kegel. "Die Gegenwart hat in diesem Schema gar keinen Platz. Sie ist nur noch der Punkt des Brechens. Aber die Gegenwart ist die einzige Zeit, die wir zur Verfügung haben."

Es kommt zur Erfindung des Historischen. Geschichte wird zu jenem bereits erwähnten Abfallhaufen. "Was ein für alle Mal vorbei ist, kann nicht mehr als Ressource für Gegenwart und Zukunft taugen." Mit dieser Vergangenheit dürfen sich die Geschichtswissenschaftler beschäftigen. Für Zukunftsfragen oder Identitätsfindung ist sie nicht mehr relevant. Sie hat nur noch musealen Wert.

Der Futurist zerstört

Dieser Zukunftsglaube, dieses Zeitregime der Moderne, geriet laut Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann in den 1980er-Jahren in die Krise. Nachdenkliche Stimmen gab es schon vorher, gerade im Umfeld des Futurismus, den die Literaturwissenschaftlerin als "hypertrophe Männerfantasie" bezeichnet. "Der Futurist zerstört, zerstört, zerstört, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was er Neues schafft, auch wirklich besser ist als das Alte", schrieb 1929 der italienische Marxist Antonio Gramsci.

Assmann konstatiert ein "Ende der Utopien": "Die Zukunft ist vom Gegenstand der Hoffnung zum Gegenstand der Sorge und Vorsorge geworden." Zudem melde sich die Vergangenheit wieder. "Episoden der Geschichte, die wir glaubten hinter uns gelassen zu haben, erheben Anspruch auf Anerkennung, Verantwortung, Erinnerung." Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Weltkriege, der Holocaust lassen sich nicht einfach abhandeln.

Hinzu kommt der Aufstieg der digitalen Medien. "Die Menschheit hat sich ein riesiges kollektives Gedächtnis zugelegt. Statt Vergangenheit und Zukunft gibt es eine breite Gegenwart." Assmann ist überzeugt: "Wir wissen, dass wir auf der Erde sorgsamer und umsichtiger gemeinsam haushalten müssen."

Zeitregime der Wissenschaft

Das Zeitregime der Moderne weicht einer neuen Sicht: "Zukunft liegt nicht einfach naturgegeben vor uns, sondern wird erzeugt." Und: "Kulturelles Gedächtnis erzeugt Zukunft durch Erhaltung und Weitergabe." Kulturelle Nachhaltigkeit ist gefragt.

"So wie die Zukunft ein Gegenstand der Vorsorge geworden ist, ist die Vergangenheit ein Gegenstand der Nachsorge geworden", fasst die Stiftungsprofessorin zusammen. "Weder darf sich die Zukunft auf Kosten der Vergangenheit, noch die Vergangenheit auf Kosten der Zukunft breitmachen."

Das Zeitregime der Moderne hat also abgedankt? Nicht in allen Bereichen. Aleida Assmann schaut wieder hinüber zu Jan Assmann, zu den versammelten Professorinnen und Professoren, zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Publikum. "In der Wissenschaft, der Technik und möglicherweise der Wirtschaft besteht das Zeitregime fort. Wir müssen uns ständig als Erneuerer, als noch nie da Gewesene beschreiben, um Drittmittel einzuwerben."