Streiten für unabhängige Medizin und bestmögliche Behandlung

28. September 2018

Über einen Mangel an Ämtern kann sich Prof. Dr. Klaus Lieb kaum beklagen: Er ist nicht nur Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, sondern unter anderem auch wissenschaftlicher Geschäftsführer des Deutschen Resilienz Zentrums Mainz und stellvertretender Sprecher des Forschungszentrums Translationale Neurowissenschaften Mainz. Lieb hat zwei Standard-Lehrwerke zur Psychotherapie verfasst, das Netzwerk MEZIS begründet und ist in der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft aktiv.

"Es stimmt schon, ich habe viele verschiedene Aufgaben", merkt Prof. Dr. Klaus Lieb an. "Aber sie laufen alle mit einem Ziel zusammen: die Behandlungssituation für psychisch Kranke zu verbessern." Der Terminkalender des Mediziners ist voll, dennoch nimmt er sich Zeit, um von seiner Arbeit und seinem Credo zu erzählen.

"Wir haben es mit vielen Verzerrungen und Einflüssen zu tun, die hinderlich wirken auf dem Weg zur bestmöglichen Therapie. Es ist wichtig, sich unabhängig zu machen von solch äußeren Faktoren, aber dazu müssen wir sie erst einmal erkennen. Dann können wir sie zurückdrängen, die Behandlungsqualität verbessern und das Bestmögliche für unsere Patientinnen und Patienten erreichen." Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz formuliert das Problem zwar sehr klar und übersichtlich, zugleich aber weiß er, dass es alles andere als einfach ist, den von ihm skizzierten Anspruch zu erfüllen.

Vom Einfluss der Pharmaindustrie

Einen der erwähnten Einflüsse erlebte Lieb bereits vor vielen Jahren am eigenen Leib. Er war eingeladen zu einer Fortbildung im Ausland. Ein Pharmaunternehmen stellte ein neues Medikament vor. "Ich fand das nicht richtig. Es wurde sehr viel Geld für uns ausgegeben und letztendlich mussten das alles die Patienten bezahlen, weil die Marketingkosten natürlich auf die Arzneimittelpreise umgelegt werden."

Lieb engagiert sich gegen dieses Vorgehen der Pharmaindustrie. Er wendet sich gegen Geldgeschenke, gegen gesponserte Vorträge, gegen all jene Strategien, mit denen Pharmavertreter versuchen, einen Fuß in die Türen der Praxen und Kliniken zu bekommen. Deswegen wurde er Gründungsmitglied von MEZIS, "Mein Essen zahl ich selbst", einem Netzwerk unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte. Deswegen engagiert er sich als wissenschaftlicher Leiter in der Initiative LIBERMED, die unabhängige Fortbildungen anbietet, und in der Bundesärztekammer im Ausschuss "Transparenz und Unabhängigkeit".

"Ich bin mir bewusst, dass wir da an einem dicken Brett bohren, aber wir brauchen einen grundlegenden Kulturwechsel", fordert Lieb. Das hört sich beinahe an, als hätte er einer ganzen Branche den Kampf angesagt. Diesem Eindruck allerdings widerspricht der Mediziner. "Ich bin kein Feind der Pharmaindustrie. In der Forschung arbeiten wir gern mit Unternehmen zusammen, um neue Medikamente zu entwickeln, die unsere Behandlungsmöglichkeiten erweitern und verbessern. Die wissenschaftlichen Kontakte möchten wir nicht reduziert wissen. Aber in der Patientenversorgung müssen wir unabhängig bleiben."

Behandlungszentrum für affektive Störungen

Diese Einstellung brachte Lieb eine hohe Auszeichnung: Der Deutsche Hochschulverband kürte ihn zum Hochschullehrer des Jahres 2013. "Ich habe mich sehr darüber gefreut, war damals aber auch ein wenig verwundert. Ich dachte, solch eine Position zu vertreten, wäre eine Selbstverständlichkeit."

Seit 2007 leitet Lieb die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Doch auch als Direktor nimmt er sich noch viel Zeit für Patientinnen und Patienten. Diesen Kontakt will er auf keinen Fall abbrechen lassen, er setzt auf Praxisnähe. Sein Team ist für die Grundversorgung im Raum Mainz verantwortlich, es hat also mit der ganzen Bandbreite an psychischen Erkrankungen zu tun. Liebs besonderes Fachgebiet sind dabei die affektiven Störungen, also Depressionen und manisch-depressive Fälle. "In diesem Bereich werden wir die Klinik weiterentwickeln und in den kommenden Jahren ein Behandlungszentrum aufbauen", kündigt er an. "So können wir unsere Kompetenzen wirksamer bündeln."

Lieb ist auch einer der beiden Geschäftsführer des 2014 gegründeten Deutschen Resilienz Zentrums (DRZ). In dieser 2018 aus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Universitätsmedizin Mainz ausgegründeten Institution arbeiten Neurowissenschaftler, Mediziner und Psychologen, Sportwissenschaftler, Soziologen und Philosophen Hand in Hand um zu ergründen, wie der Mensch mit Stress umgeht, wie es um seine Widerstandsfähigkeit steht. "Unser fächerübergreifender Ansatz ist mir wichtig", so Lieb. "Ich tausche mich gern mit anderen Disziplinen aus." Lieb selbst hat nicht nur Humanmedizin in Ulm, Tübingen und Los Angeles studiert, er war auch für Philosophie eingeschrieben. Das hebt er nicht besonders hervor, meint aber: "Vielleicht hilft mir das ein wenig, Fragen grundsätzlicher zu stellen."

Forschung im Dienst der Prävention

Die Medizin beschäftigt sich meist mit der Pathologie, mit Patientinnen und Patienten. "Das DRZ hingegen legt den Schwerpunkt auf die Prävention. Das halte ich für eine sehr sinnvolle Strategie. Wir geben bisher gerade mal etwa zwei Prozent für diesen Bereich aus, der Rest ist immer noch Krankenbehandlung." Lieb kann unmöglich im Detail auf die einzelnen Forschungsfelder des Zentrums eingehen, aber einen kurzen Einblick gibt er doch: "Es sieht so aus, als hätten wir immer mehr Stress und als ginge unsere Fähigkeit zur Stressbewältigung zurück." Er versucht sich an einer Erklärung: "Ich denke, uns fehlen die Erholungsphasen, die es früher noch gab. Mit Computer und Handy stehen wir ständig unter Strom."

Und wer mit Stress nicht zurechtkommt, entwickelt womöglich psychische Störungen – womit sich der Kreis wieder schließt: Lieb geht es immer um die bestmögliche Behandlung, sei es nun über die Prävention oder über seine Arbeit als Mediziner, die er möglichst von unangemessenen Einflüssen frei halten will. Dafür stärkt er dem Nachwuchs den Rücken, dafür schreibt er Bücher wie das Standardwerk "Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie", das mittlerweile in die neunte Auflage geht. Dafür packt er gern seinen Kalender voll und schiebt noch einen zusätzlichen Termin dazwischen.