Atemraum für die Kunst

21. Juni 2024

Mit der Ausstellung "ATEMRAUM" zeigt die Schule des Sehens der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Ergebnisse eines interdisziplinären Projektseminars: Studierende und Dozierende der Kunsthochschule und der Hochschule für Musik, der Kunstgeschichte und der Musikwissenschaft haben für diese Ausstellung erstmals zusammengearbeitet. Sie  haben eigene Werke geschaffen und ein Konzept zur Präsentation erarbeitet.

Ein Hochsitz soll es einmal werden, doch noch liegen die einzelnen Teile ausgebreitet im Saal. "Das Material hat mir ein Kommilitone überlassen", erzählt David Göhrig. "Er verwendete eine besondere japanische Technik. Er verkohlte die Oberflächen der Bretter, um sie zu versiegeln." Sie sehen schwarz aus und wirken stark verwittert. "Das passt sehr gut, es verleiht ihnen etwas Archaisches."

"Ich beschäftige mich sehr mit der Verflechtung von Natur und Kultur", sagt Göhrig, Student an der Kunsthochschule Mainz. Dieses Thema hat ihn auch bei seiner multisensorischen Waldsimulation beschäftigt, deren zentrales Element der Hochsitz ist. Mit Duftstoffen hatte er bisher noch nicht gearbeitet. "Neben Duft wollen wir vielleicht auch noch einen Sound mit hineinbringen." Der Austausch mit Taegyu Lim von der Hochschule für Musik brachte ihn darauf, über Simulationen von Waldgeräuschen nachzudenken. "Wir wissen noch nicht, ob es funktioniert", räumt Lim ein. Düfte sind flüchtig, auch das könnte zum Problem werden. Außerdem: Wie riecht so ein Wald nun wirklich und wie lässt sich dieser Geruch in eine Ausstellung transportieren? Göhrig hat ätherische Öle bestellt, eine Probe ist bereits da. Doch ein erster Geruchstest überzeugt nur bedingt. "Es kann auch scheitern", warnt er. "Aber das gehört dazu.“

Prof. Irene Schütze testet eine Duftprobe für die Waldsimulation von David Göhrig. (Foto: Stefan F. Sämmer)
Prof. Irene Schütze testet eine Duftprobe für die Waldsimulation von David Göhrig. (Foto: Stefan F. Sämmer)

 

Ab 25. Juni 2024 wird das Werk in der Schule des Sehens auf dem Gutenberg-Campus zu betrachten sein – und vielleicht auch zu riechen. Mit "ATEMRAUM. Eine künstlerische Erforschung von Atem, Medialität und Wahrnehmung" präsentieren dort Studierende der Kunstgeschichte, der Bildenden Kunst, der Musik und der Musikwissenschaft die Ergebnisse eines außergewöhnlichen kuratorischen Lehr- und Ausstellungsprojekts.

Atem nehmen, Atem rauben

"Unsere Universität vereint eine Musikhochschule und eine Kunsthochschule unter ihrem Dach", sagt Prof. Dr. Elke Werner vom Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft (IKM) der JGU. "Damit ist sie bundesweit einzigartig." Diese Einzigartigkeit wollte die Kunsthistorikerin für ihre Studierenden nutzen. Sie entwickelte die Idee zu einem Projektseminar, an dem Studierende und Lehrende sowohl der beiden künstlerischen Hochschulen als auch des IKM mitwirken sollten. Ausgangspunkt war der Begriff des Atemraums, den der Schweizer Kurator Harald Szeemann in den 1970er- und 1980er-Jahren prägte: Ein Kunstwerk soll in einem angemessenen Verhältnis zu den anderen Exponaten einer Ausstellung, zu dem dort gegebenen Raum und zu den Besucher*innen stehen. Im Dialog mit all diesen Faktoren bekommt es Atemraum und entfaltet seine Wirkung.

"Wir waren insgesamt fünf Dozierende, die dieses Seminar vorbereitet haben", erzählt Werner. Neben ihr waren Prof. Peter Kiefer, Prof. Dr. Birger Petersen und Prof. Stefan Fricke von der Hochschule für Musik sowie Prof. Dr. Irene Schütze von der Kunsthochschule mit im Boot. "Wir verstanden uns eher als Mentor*innen, als Coaches. Die Studierenden waren stärker als sonst gefordert, ihre eigenen Wege zu finden, eigene Werke und Ausstellungskonzepte zu entwickeln. Sie brachten auch eigene Assoziationen zum Begriff Atemraum ein: Wer hat Atemraum? Wem wird Atem genommen? So kamen politische Assoziationen mit hinein. Nun wird es in der Ausstellung auch um Themen wie Umweltverschmutzung, Klimawandel und Migration gehen."

Kunststudentin Jil Bertels arbeitet unter anderem mit Kohle, Zucker und Wasser für "ATEMRAUM. Eine künstlerische Erforschung von Atem, Medialität und Wahrnehmung" (Foto: Stefan F. Sämmer)
Kunststudentin Jil Bertels arbeitet unter anderem mit Kohle, Zucker und Wasser für "ATEMRAUM. Eine künstlerische Erforschung von Atem, Medialität und Wahrnehmung" (Foto: Stefan F. Sämmer)

 

Jil Bertels arbeitet mit Kohle, Zucker, Wasser, mit vergänglichen Materialien. "Ich beginne damit, dass ich diese Stoffe und ihre Eigenschaften genau erforsche. Wie ticken sie? Was kann ich daraus machen?" Oft kommt dabei eine handelsübliche Kochplatte zum Einsatz. "Ich erlebe, wie etwas zusammenbricht, wie sich etwas auflöst." Auflösung und Zersetzung sind zentrale Faktoren in Bertels' Arbeiten. "Es geht um die Frage, was übrig bleibt, wenn man etwas nicht bewahren kann." Für "ATEMRAUM" wird die Kunststudentin kein fertiges Werk zeigen, sondern erst mal nur ein Material, das vielleicht als Keim für eine zukünftige Arbeit dienen wird: Aus Kohle hat sie ein Gespinst geschaffen, das an die feinen Bläschen der Lunge erinnert, eine Atemstruktur in Schwarz. Sicher könnte sie auch dies aufs Podest stellen und einfach zum Kunstwerk erklären, doch das liegt ihr nicht: "Man darf nur bedingt kompromissbereit sein."

Unterstützung durchs Gutenberg Lehrkolleg

"Uns geht es in diesem Projektseminar auch darum, dass die Kunst-Studierenden über ihre Arbeit im Austausch mit theoretisch arbeitenden Studierenden nachdenken“, meint Prof. Dr. Irene Schütze von der Kunsthochschule. Sie weiß, dass sie damit einiges verlangt, denn: "Die Studierenden müssen in diesem Seminar sowieso extrem schnell arbeiten. Normalerweise entsteht ein Kunstwerk im Laufe von Monaten, diesmal aber waren nur sechs Wochen Zeit. Das ist eine echte Leistung. Nicht alles muss tatsächlich bis zur Ausstellungseröffnung fertig sein, es kann auch ein Ist-Zustand innerhalb eines unabgeschlossenen Prozesses gezeigt werden." Neben der künstlerische Seite haben sich die Studierenden auch um alle anderen Aspekte der Ausstellung gekümmert: Sie haben bereits die Pressearbeit im Vorfeld geleistet, es sind Texte zu den Arbeiten und ihren Schöpfer*innen entstanden und am Ende soll alles zu einem schlüssigen Ganzen in der Schule des Sehens zusammengeführt werden.

"ATEMRAUM" wird als innovatives Lehrprojekt vom Gutenberg Lehrkolleg (GLK) der JGU unterstützt. Mit der Zusammenführung von 25 Studierenden aus vier sehr unterschiedlichen Bereichen steht es tatsächlich einzig da. "Wir freuen uns, dass wir das GLK von unserer Idee überzeugen konnten", betont Prof. Peter Kiefer. Er leitet an der Hochschule für Musik Mainz die Abteilung Klangkunst. "Grundsätzlich muss man sagen, dass es für uns Klangkünstler eigentlich naheliegend ist, mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten, dennoch hat es eine künstlerische Zusammenarbeit dieser Art noch nicht gegeben."

"Wir haben dabei ganz praktisch erlebt, wie jede Hochschule, jedes Fachgebiet eine eigene Begrifflichkeit, eine eigene Art des Lehrens und des Arbeitens mitbringt", resümiert Werner. "Es war spannend, aber manchmal auch fordernd, sich darüber auszutauschen." – "Für mich war es eindrucksvoll zu sehen, wie Teams zusammenfanden, wie sie sich organisierten, um mit Aufgaben zurechtzukommen, mit denen sie so noch nie konfrontiert waren", so Schütze. Die intensive Gruppenarbeit war ein wichtiges Ziel von "ATEMRAUM", schließlich kam sie im Schatten von Corona leider oft etwas kurz. "Die Studierenden sollten positive Erfahrungen damit sammeln", so Werner.

"Kommunikation war für uns ein sehr zentraler Aspekt", so Kunstgeschichtsstudentin Zena Alzir. "Wir standen ständig miteinander in Kontakt und haben uns auf einer eigenen Online-Plattform abgestimmt, wer welche Beträge wo leisten kann." Jenseits der Kunstwerke ging es auch um Textarbeit: Zu welchen Künstler*innen, zu welchen Werken sollte es welche Beträge geben? "Wir konnten Kunst im Werden begleiten und uns überlegen, wie wir dies dokumentieren wollen, ob wir etwa ein Interview führen oder doch ein Porträt schreiben sollen."

Ausstellung und Performance

"Unser erstes Treffen fand in der Schule des Sehens statt", erinnert sich Kiefer. "Ich hatte das angeregt, schließlich sollten alle ein Gefühl für den Ausstellungsraum bekommen. Wir haben mit gemeinsamen Atemübungen begonnen, dann füllte jeder einen Luftballon mit seiner Atemluft. Ich bewahre all die Ballons in meinem Büro auf. Eigentlich sind sie ein Atemraum-Kunstwerk für sich."

Die Schule des Sehens war den Beteiligten ständig gegenwärtig. "Wir kalkulierten immer wieder neu, wie wir die einzelnen Kunstwerke in diesem Raum unterbringen können", so Alzir. "Die meisten werden mit Klang und Musik verbunden sein, könnten sich also gegenseitig stören." Schütze erwähnt einen weiteren Aspekt: "David Göhrigs Arbeiten zum Beispiel nehmen normalerweise viel Raum ein." Diesmal musste er sich etwas zurücknehmen: Er wird nur die Kanzel des Hochstands aufbauen. Und es werden die Waldgerüche hinzukommen, die auch ein eigenes Atem-Raum-Erlebnis ermöglichen.

Ein zusätzliches Angebot zur Ausstellungseröffnung sprengt dann endgültig den "ATEMRAUM": "Wir haben uns überlegt, im Anschluss noch zu einem Performance-Programm in die Hochschule für Musik einzuladen", so Kiefer. Dort wird unter anderem Lim ein Video präsentieren, in dem er die antike 4-Elemente-Lehre aufgreift. KI-generierte Bilder von Natur und elektronische Klänge treffen auf anscheinend authentische Klänge und Bilder aus der Natur. Lim selbst meint zu seiner Arbeit: "Everything we think and feel about nature is fake." – "Alles, was wir über Natur denken und fühlen, ist Täuschung." Auch dieser Gedanke verlangt Raum zum Atmen.

Text: Gerd Blase