13. Juli 2017
Zum Abschluss seiner zehnteiligen Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" wandte sich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster einem Thema zu, das gerade für Deutschland mit seiner immer älter werdenden Gesellschaft virulent ist. Der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor widmete sich der Frage: "Können digitale Assistenzsysteme das selbstbestimmte Leben im Alter erleichtern?"
"Ich könnte noch 20, 30 Vorlesungen zum Thema dieser Reihe halten", meint Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster zum Abschied, "denn wir waren noch immer an der Oberfläche." Aber viel Grundsätzliches habe er doch klären können, viele Facetten der Künstlichen Intelligenz seien nun hoffentlich klarer geworden. "Das ist wichtig, damit Sie mit kritischem Sinn beurteilen können, was wo eingesetzt werden sollte."
Der Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2017 ist überzeugt, dass digitale Technik und Künstliche Intelligenz (KI) ihren Teil dazu beitragen werden, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, sei es die Energiewende oder die Terrorismusbekämpfung, der Klimaschutz oder die Ressourcenschonung. "Ich glaube, diese Technik ist nicht unser Feind, sondern sie wird uns – richtig eingesetzt – sehr helfen." An einem Beispiel will Wahlster das zum Finale seiner Vorlesungsreihe "Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand" deutlich machen. Es geht um die Frage, ob digitale Assistenzsysteme das Leben im Alter erleichtern können.
Technik ohne Firlefanz
Die Lebenserwartung in Deutschland steigt stetig. "Aktuell wird eine heute 50-jährige Frau im Durchschnitt 88,2 Jahre alt, mit 13-prozentiger Wahrscheinlichkeit kann sie sogar 100 Jahre erreichen", zitiert Wahlster aktuelle Statistiken. Leben im Alter sei ein gewichtiges und allgegenwärtiges Thema. "Es betrifft uns alle."
Drei Grundbedürfnisse macht der Stiftungsprofessor im Alter aus: Gesund bleiben, sicher unterwegs sein und so lange wie möglich selbstständig im häuslichen Umfeld leben. In all diesen Bereichen könne digitale Technik nützlich sein. "Denken Sie an Suchhilfen: Wo ist meine Brille? Wo sind die Kellerschlüssel? Denken Sie an Mobilitätshilfen wie den intelligenten Rollator." Auch zeitliche Orientierungshilfen seien wichtig: "Wann kommt der Fußpfleger? Wann habe ich zuletzt mit meiner Tochter telefoniert?"
An KI-basierten Assistenzsystemen für Seniorinnen und Senioren arbeite die Wissenschaft seit rund zehn Jahren. "Bis vor zwei, drei Jahren war die Technik aber noch zu teuer. Heute sind die Geräte so günstig, dass die Kosten nicht mehr im Vordergrund stehen." Auch der Durchschnittsbürger könne sich das leisten.
Entscheidend für die Akzeptanz all dieser Hilfen sei allerdings, dass sie genau auf den älteren Menschen zugeschnitten werden. "Wir sollten auf jeden Firlefanz verzichten. Das Prinzip der Einfachheit ist ganz wichtig." Nützlichkeit und einfache Steuerbarkeit müssten im Vordergrund stehen. "Die Angst vor dem Kontrollverlust spielt bei diesen Anwendungen eine noch größere Rolle als etwa beim autonomen Fahren."
Die intelligente Tischdecke
Wahlster setzt zur großen Produktschau an: Er lässt eine ganze Reihe gelungener Assistenzsysteme Revue passieren. "Ich fange mit ganz einfachen Dingen an", meint er. Sein Vater etwa sei ein begeisterter Leser, könne aber nicht mehr so gut sehen. Einst war er auf Bücher in Großdruck angewiesen. Nun gebe es digitale Geräte wie E-Books mit beliebig anpassbarer Schriftgröße. "Ein ganz simples Beispiel für die Vorteile der Digitalisierung."
Natürlich geht es auch komplizierter: Systeme in der Wohnung können gewisse Ereignisse erkennen und Maßnahmen einleiten. "Das ist wichtig, denn Senioren über 70 stürzen im Durchschnitt dreimal im Jahr in ihrer Wohnung." Grundsätzlich könne das Smart Home mit all seinen vernetzten Geräten, mit all seinen Sensoren gerade im Alter vieles ermöglichen. "Das wird in den nächsten Jahren noch einfacher." Wahlster vergleicht das Prinzip des intelligenten Heims mit einem Legokasten, aus dem sich jeder die passenden Bausteine heraussuchen kann.
Es gibt bereits intelligente Tischdecken, die mit ihren rund 10.000 Sensoren genau erkennen, was auf ihnen abgestellt wird: welches Glas, welcher Teller, welches Gewicht. "Das System hilft zum Beispiel, einen Diätplan einzuhalten." Es registriert buchstäblich, was auf den Tisch kommt.
Veredelte Medikamente
Computer generieren Avatare, fiktive Figuren, die als Physiotherapeuten mit den Menschen arbeiten. Über eine spezielle Sensorik prüft ein entsprechendes Programm, ob gewisse Übungen richtig ausgeführt werden, und gibt Rückmeldung. "Auf diese Weise können wir jedem seinen privaten Physiotherapeuten zur Verfügung stellen."
Digital veredelte Blister enthalten individuell zusammengestellte Medikamentenmischungen – und können in ein Gerät eingelegt werden, das zum richtigen Zeitpunkt die Öffnung des richtigen Medikamentenfachs erlaubt, den Zugang zu den anderen jedoch verweigert. Eine mitgelieferte App kann das noch ergänzen: Sie betrachtet relevante Kontexte wie Gewicht oder Schlafverhalten. "Sie kaufen das Pharma-Präparat mit einem Gesundheitsdienst dazu."
Wahlsters Liste ist lang: Von autonom fahrenden Rollstühlen ist die Rede, von Exoskeletten für Querschnittsgelähmte, von Möbeln, die sich auf den Benutzer einstellen, und von Hilfen im öffentlichen Personennahverkehr. "Wir haben gerade ein System entwickelt, das eine Warnfunktion für einen Herzinfarkt enthält", erzählt er. Werte wie der Blutdruck werden ständig gemessen.
Engagiertes Publikum
"Das ist der Beitrag zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, die ja global ist", fasst Wahlster zusammen. "Wir wollen als Techniker und Wissenschaftler nicht überheblich sein." Viele Probleme könne allein die Politik lösen. "Aber Künstliche Intelligenz kann als Schlüsseltechnologie helfen."
Damit verabschiedet sich der 18. Träger der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur. "Sie waren ein sehr engagiertes Publikum", bescheinigt er seinen zahlreichen Gästen im größten Hörsaal auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "Ich kam oft zu spät zum Essen, weil es so viele Rückfragen gab." Nachdem Universitätspräsident Prof. Dr. Georg Krausch ihm mit dankenden Worten die offizielle Urkunde zur Stiftungsprofessur und die Gutenberg-Medaille überreicht hat, betont Wahlster noch einmal: "Ich habe diese Reihe sehr genossen." Dann schiebt er nach: "Ich bin jetzt gleich draußen und stehe bereit, um weitere Fragen zu beantworten."