29. August 2014
Sie gründete in Mainz das Zentrum für Schottlandstudien in Europa und sie ist Leiterin des größten Forschungsprogramms zu Sir Walter Scott. Sie berät das schottische Parlament – und sie bringt Studierende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) über Praktika an schottische Schulen. Es ist schwer, all das zu fassen, was Privatdozentin Dr. Sigrid Rieuwerts für den deutsch-schottischen Dialog tut.
Noch ist sie in ihrem Büro am Department für English and Linguistics an der JGU anzutreffen, doch bald schon geht es für PD Dr. Sigrid Rieuwerts wieder in Richtung Edinburgh. Sie will dabei sein, wenn dort wichtige Weichen gestellt werden: Am 18. September stimmen die Schotten ab, ob ihr Land den Weg in die Unabhängigkeit geht.
"Das ist eine spannende Zeit, auch wenn bei uns darüber wenig in den Medien berichtet wird", startet Rieuwerts. "Tritt Plan A in Kraft und Schottland wird unabhängig, dann wird Berlin das deutsch-schottische Verhältnis neu gestalten. Tritt aber Plan B in Kraft und geht Schottland nicht in die Unabhängigkeit, dann muss es sich neu erfinden. Dann braucht es starke Partner im Ausland. Solche Partnerschaften könnten am besten über die Universitäten und die Länder laufen. Da wären Rheinland-Pfalz und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz gute Kandidaten."
Das Gedächtnis Schottlands
Dass sie untätig zusehen wird, wenn es so weit ist, scheint schier undenkbar. In Rieuwerts vibriert es förmlich vor Energie und Tatendrang. Es hält sie kaum auf ihrem Stuhl, sie redet ungeheuer schnell und hat dabei viel zu sagen. Ihr Verhältnis zu Schottland hat so viele Facetten, wie soll sie die alle in ein einziges Gespräch packen?
"Ich habe etwas mitgebracht", meint Rieuwerts und legt ein dickes Buch auf den Tisch. "Das habe ich für 12 Pfund auf einem Flohmarkt erworben." Es ist ein wunderschöner alter Band mit feinen Illustrationen. "Scott's Critical Works" steht leicht verblichen auf dem breiten Buchrücken. "Sir Walter Scott verkörpert das Gedächtnis Schottlands, aber viele halten ihn für verstaubt."
Rieuwerts ist angetreten, diesen Staub wegzublasen. Im Jahr 2011 rief sie ein binationales Forschungsprojekt ins Leben, das sich mit Scotts Balladensammlung "The Minstrelsy of the Scottish Border" befasst. Angesiedelt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der University of Edinburgh, wo Rieuwerts als Privatdozentin am Celtic and Scottish Department lehrt, ist es das größte geisteswissenschaftliche Projekt dieser Art. Ursprünglich auf drei Jahre angelegt, wurde es von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem britischen Arts and Humanities Research Council mit 500.000 Euro gefördert. "Nun haben wir es verlängert", erzählt Rieuwerts.
Ähnlich wie die Gebrüder Grimm interessierte sich Scott für das mündlich übertragene Volksgut seiner Heimat. Er sammelte die Balladen der Borderlands. Dass er dabei durchaus auch selbst schöpferisch Hand anlegte und nicht nur aufzeichnete, entspricht ganz dem Geist seiner Zeit.
Society for Scottish Studies
"Können Sie sich vorstellen, dass es von diesem Buch keine kritische Ausgabe gibt?", fragt Rieuwerts. Mit ihren Teams in Edinburgh und Mainz ist sie dabei, solch eine Ausgabe zu erstellen. Dabei geht die Arbeit weit über die gängige Forschungspraxis hinaus. So besucht sie mit ihren Studierenden Friedhöfe, um über die Grabsteine Hinweise auf jene Menschen zu finden, die Scott einst die Balladen lieferten. "Oft waren es Frauen, die er nur mit einem Buchstaben erwähnt. Ich will ihnen ein Gesicht geben."
Den Verbindungen zwischen Scott und den Brüdern Grimm widmete Rieuwerts sogar eine Ausstellung in der Nationalbibliothek von Edinburgh – und stieß nebenbei auf die einzige lebende Nachfahrin der Grimms, die in Schottland lebt und über wichtige Manuskripte verfügt.
Als das Scott-Projekt anlief, wurde auf Rieuwerts' Initiative die Society for Scottish Studies in Europe gegründet, die erste Gesellschaft zur Förderung für Schottlandstudien in Europa. Dass sie zu deren Präsidentin gewählt wurde, erwähnt Rieuwerts nicht einmal. Lieber erzählt sie weiter von ihren schottischen Verbindungen.
Im deutschen Generalkonsulat in Edinburgh erfuhr sie, dass es schlecht steht um den Deutschunterricht an schottischen Schulen – und das einem Land, wo die deutschen Klassiker einst gern auch im Original gelesen wurden. "In ganz Schottland gab es 2013 nur noch neun Deutschlehrerinnen und -lehrer."
Deutschunterricht in Schottland
Rieuwerts schuf Abhilfe. Sie holte 33 Englisch-Lehramtskandidaten aus Deutschland. "Unsere Studierenden müssen als angehende Lehrer ja ein dreimonatiges Auslandspraktikum nachweisen." Da kam vielen dieses Angebot sehr recht. Mittlerweile wird das Programm "German Eductional Trainees Across Borders“ nicht nur vom Generalkonsulat, sondern auch von Scotland's National Centre for Languages unterstützt.
Rieuwerts hat unzählige Verbindungen geknüpft. Viele Institutionen wenden sich an sie, wenn es um schottisch-deutsche Angelegenheiten geht. Sie sitzt sogar im schottischen Parlament, in der sogenannten "Cross Party Group on Germany". Jüngst ist ihr zu Ohren gekommen, dass der deutsch-schottische Schüleraustausch allmählich dahinsiecht. "Also habe ich eine offizielle Anfrage dazu gestellt", erzählt sie. "Ich bin gespannt auf die Antwort."
Viele von Rieuwerts Aktivitäten lassen sich nur streifen. So erfuhr sie, dass es in einer Bibliothek in den Borderlands an einem Spezialisten fehlte, der auf Latein verfasste Dokumente lesen kann. Sie vermittelte einen Studierenden – und der erlebte eine Überraschung: "Er entdeckte Königsakten, die noch nie jemand gesehen hatte." Ein weiteres Forschungsprojekt mit Beteiligung der JGU war geboren.
"In Edinburgh glauben sie inzwischen, dass alle deutschen Studierenden aus Mainz kommen", meint Rieuwerts mit einem Augenzwinkern, bevor sie ernster hinzufügt: "Wir haben dort eine wichtige Position." Und nun, da große Entscheidungen anstehen, muss Rieuwerts unbedingt zurück nach Schottland. "Wir möchten gern mitmischen, wenn das Land sich neu erfindet", meint sie. "Bildung ist eines der Felder, in denen sich Schottland selbst definieren kann. Da sage ich: Wenn ihr euch definiert, gebt uns dabei doch einen Platz."