4. Januar 2012
Als Universitätsprofessorin für Historische Sprachwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) interessiert sich Damaris Nübling für die Entwicklung der deutschen Sprache von ihren ersten Belegen, dem Althochdeutschen um 800, bis hin zur heutigen Gegenwartssprache. Dass die Historische Sprachwissenschaft keine langweilige, staubtrockene Disziplin ist, zeigen ihre aktuellen Projekte. Momentan beschäftigt sie sich mit der Erforschung von Familiennamen.
Auf die Frage, wie Historische Sprachwissenschaft bei den heutigen Studierenden ankomme, erwidert Nübling schmunzelnd: "Viel besser, als Sie glauben." Die meisten lernten diese Disziplin erst im Studium kennen und fänden Gefallen an den interessanten Fragestellungen. Nicht viel anders als den allermeisten Studienanfängern heutzutage erging es auch Nübling selbst. "Eigentlich bin ich eine verhinderte Biologin", verrät sie. In ihrem Wunschfach Biologie bekam sie aber zunächst keinen Studienplatz, daher wollte sie ein Semester in Germanistik "parken". In Freiburg, ihrem damaligen Studienort, war sie dann von Linguistik aber so begeistert, dass sie den Studienplatz in Biologie, den sie später noch bekam, sausen ließ. Nun beschäftigt sie sich also mit der Entwicklung von Sprache statt mit der Entwicklung der Arten.
Ein Vorhaben, an dem die Universitätsprofessorin derzeit arbeitet, ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt Deutscher Familiennamenatlas (DFA), eine Kooperation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit der Universität Freiburg, die die Verbreitung von Familiennamenlandschaften untersucht. Dafür erwarben Nübling und ihr Team die Daten von der Telekom: alle in Deutschland vorkommenden Familiennamen mit dazugehöriger Postleitzahl. So können die Forscher sehen, welcher Name in welchen Gebieten vorkommt und daraus viele wichtige Schlüsse nicht nur für die Entwicklung und Ausbreitung der Namen, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung der deutschen Sprache ziehen. Der DFA ist das erste Projekt dieser Größenordnung, das sich mit der Verbreitung von Familiennamen befasst.
Konservierte Sprache
Familiennamen sind vor ungefähr 500 Jahren entstanden. "Im Mittelalter gab es immer wieder die gleichen Rufnamen", erklärt Nübling. Um beispielsweise die zehn Georgs, die man kannte, voneinander zu unterscheiden, bekam jeder zusätzlich einen Beinamen, der sich dann später zum Familiennamen verfestigte. In der Regel war dieser Beiname ein signifikantes Merkmal, das mit der Herkunft, dem Beruf oder aber auch dem Aussehen zu tun hatte. Wenn einer der zehn Georgs ein Schmied war, dann wurde er beispielsweise Georg (der) Schmied und seine Nachfahren heißen noch immer so, selbst wenn sie nicht mit Hammer und Amboss umgehen können.
Mittlerweile gibt es in Deutschland rund 1,1 Millionen Familiennamen, inklusive Schreibvarianten, Fremd- und Bindestrichnamen. Für Sprachwissenschaftler wie Nübling sind sie äußerst aufschlussreiche Forschungsobjekte. "Sie sind konservierte Sprache von vor 500 Jahren." Denn die verschiedenen Dialekte der deutschen Sprache, die zur Zeit der Namensbildung existierten, wurden nicht verschriftlicht außer in unseren Familiennamen. Nübling und ihre Kolleginnen und Kollegen können daher anhand unserer Nachnamen Rückschlüsse auf die damaligen Dialekte ziehen und aufgrund der heutigen Verbreitung unserer Familiennamen erkennen, wie vor 500 Jahren die Namenlandschaft ausgesehen hat. "Das", so konstatiert die Professorin, "ist eine Revolution für die Sprachwissenschaft." Die Rückschlüsse lassen sich ziehen, da bei den Namenlandschaften noch zu 85% Stabilität herrsche, das heißt, "die Leute sitzen zum größten Teil heute noch da, wo ihre Vorfahren damals waren." In Zeiten der Globalisierung und totaler Flexibilität ist das ziemlich erstaunlich.
Wie sieht denn aber nun so eine Namenlandschaft aus? Nübling klickt ein paar Mal auf ihrem Laptop herum und schon öffnen sich unzählige bunte Karten, die sie selbst erstellt hat. Man erkennt auf der Deutschlandkarte bestimmte eingefärbte Gebiete, in denen sich verschiedenfarbige Kreise befinden. "Das gibt kein Chaos, sondern Landschaften", stellt Nübling klar und erklärt zur Veranschaulichung die Verbreitung des Allerweltsnamens Schmitt und seiner verschiedenen Schreibvarianten. Grün ist das Gebiet, in dem überwiegend die Schmitz' wohnen, und blau das, in dem hauptsächlich die Schmitts beheimatet sind. "Die Schmieds hocken da unten", sagt Nübling und deutet auf das rote Gebiet im süddeutschen Raum. Bei den verschiedenen Schreibweisen der Namen sind scharfe Grenzen erkennbar, sie sind die ungefähren damaligen Dialektgrenzen.
Warum die Schwabs nicht in Schwaben wohnen
Man kann über die Verbreitung der Familiennamen auch Wanderungen von Bevölkerungsgruppen nachvollziehen, ein Aspekt, der Nübling und ihr Team brennend interessiert. Die Verbreitung des Herkunftsnamens Schwab verrät demnach, wohin die Schwaben ausgewandert sind. Anhand des Kartenbildes lassen sich sowohl Auswanderungsrichtung als auch -intensität verfolgen. "Sie sehen", sagt Nübling und deutet auf die Karte, "in Schwaben selber sitzen heute fast keine Schwabs." Denn, so erklärt sie weiter, in Schwaben sei es ja nichts Besonderes, Schwabe zu sein. Eine Besonderheit sei diese Herkunft erst geworden, als man seine Heimat verlassen habe. So wurde dann aus dem schwäbischen Einwanderer Michael, um ihn von anderen Michaels zu unterscheiden, Michael (der) Schwab(e).
Die Namenlandschaften stoßen auch auf kulturhistorisches Interesse. Werden zum Beispiel alle Nachnamen, die mit Weinbau zu tun haben, auf einer Karte dargestellt, dann lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Verbreitung von verschiedenen Berufen (z.B. Küfer, Faßbinder) ziehen sowie die Frage klären, wie weit sich der Weinbau vor 500 Jahren ausdehnte und wo man einen guten Tropfen nicht ausschlug.
Mammutprojekt Digitales Familiennamenlexikon Deutschlands
Beim Deutschen Familiennamenatlas geht es nicht darum, die Bedeutung von Einzelnamen zu erklären, wie man das aus diversen Radiosendungen kennt. "Uns interessieren vielmehr linguistische und kulturhistorische Fragen", stellt Nübling klar. Eine Etymologisierung, also eine Untersuchung nach Herkunft und Bedeutung der Namen, wird jedoch in einem Folgeprojekt vorgenommen. Ab 2012 wird in einem Langzeitvorhaben, das über 24 Jahre und in Kooperation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit der Technischen Universität Darmstadt unter dem Dach der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur läuft, erstmals ein umfassendes Digitales Familiennamenwörterbuch Deutschlands (DFD) erarbeitet. Dieses soll sämtliche Familiennamen umfassen - einschließlich der ausländischen Namen, die in Deutschland vorkommen. Weltweit ist es das erste Forschungsprojekt, das den aktuellen Familiennamenbestand eines Landes umfassend erschließt.
Was hat den Anstoß für dieses Mammutprojekt gegeben? Darauf weiß Damaris Nübling klare Antworten. "Es besteht ein riesiges Interesse an der Bedeutung von Familiennamen." Alte Wörterbücher deckten jedoch gerade einmal einen Bruchteil der Namen ab. Außerdem seien viele bisherige Namensdeutungen auch einfach falsch. Ein erklärtes Ziel des Projekts sei es daher, fundierte Neudeutungen vorzunehmen. Ein Beispiel für solch eine Falschdeutung sei beispielsweise die Annahme, dass der Nachname Hunger mit Landstreicher assoziiert werde. Ein Blick auf die erstellte Karte zeigt, dass der Name vorwiegend im Erzgebirge vorkommt. Er ist eine Variante des Namens Unger und bezeichnet ungarische Einwanderer. Selbstverständlich kennt sie auch die Bedeutung ihres eigenen Familiennamens: Nübling bedeutet 'kleiner Norbert'.
Das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands wird laut Nübling eine "Leuchtturmfunktion" haben. Schon jetzt sind Kooperationen mit Österreich und der Schweiz geplant. Das DFD wird digital und kostenlos sein, einsehbar für jedermann und dient sowohl der interessierten Öffentlichkeit als auch wissenschaftlichen Belangen.
Auch wenn sie in den nächsten 24 Jahren mit dem Digitalen Familiennamenwörterbuch viel zu tun haben wird, beschäftigt sich die Professorin nicht ausschließlich mit der Erforschung von Familiennamen. Sie interessiert sich ebenso für Vornamen und Fragen der Genderlinguistik. So hat sie festgestellt, dass seit den 1970er Jahren die Vornamen von Mädchen und Jungen lautlich immer ähnlicher werden: Leah und Noah teilen viel mehr Gemeinsamkeiten als Heinz und Ursula vor 60 Jahren. Gerade ist sie dabei, einen Antrag für ein neues Forschungsprojekt zu stellen. Darin möchte sie den Vornamenwechsel von Transsexuellen untersuchen. "Dies ist noch komplett unerforscht", erklärt Nübling. Auch beschäftigt sie sich mit Zweifelsfällen der deutschen Sprache. Sie schrieb an der Duden-Grammatik mit und stieß dabei immer wieder auf solche Zweifelsfälle, die sich zum Beispiel in Schwankungen bei der Genitivbildung äußern (des Atlas/des Atlasses). Diese verschiedenen Varianten seien, wie sie nachdrücklich betont, nicht falsch, sie zeigten vielmehr, dass sich das Deutsche wie jede lebende Sprache wandle und wie es in 100 Jahren aussehen werde. Man sieht, Sprache kennt keinen Stillstand und es gibt für die "verhinderte Biologin" noch viel zu tun.