4. August 2021
Wie treffen Menschen moralische oder ökonomische Entscheidungen? Wie verhalten sie sich im Internet? Wie steht es bei Stress um ihre Kreativität? Am Mainzer Behavioral and Experimental Laboratory (MABELLA) der JGU führen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen Experimente durch, um diesen und vielen anderen Fragen auf den Grund zu gehen.
Momentan ist es aufgrund der Corona-Pandemie unüblich still im MABELLA. Zwar werden auch aktuell einzelne kleinere Studien unter strengen Auflagen durchgeführt. Die 25 Computer im großen Verhaltenslabor stehen jedoch oftmals verwaist da, dezent durch graue Stellwände voneinander getrennt. Ein wenig erinnert dieser Raum im Forum universitatis der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) an ein herkömmliches Sprachlabor. Doch hier werden keine Fremdsprachen gebüffelt, hier gehen Fachleute unterschiedlichster Disziplinen der menschlichen Natur auf den Grund.
"Wir untersuchen das Entscheidungsverhalten sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen", erklärt Prof. Dr. Daniel Schunk. "Uns interessieren dabei besonders die politischen, ökonomischen und moralischen Dimensionen." Der Volkswirtschaftler mit einer Professur für Public and Behavioral Economics gehört zum Gründungsteam von MABELLA. Er betont: "Wir wollen eine Plattform für den wissenschaftlichen Nachwuchs sein und ein Katalysator für interdisziplinäre Spitzenforschung. Unser Labor sehen wir als Kristallisationspunkt für neue und innovative Ideen."
MABELLA ging im Oktober 2017 an den Start. Neben Schunk hatten sich der Wirtschaftspädagoge Prof. Dr. Christian Dormann und Prof. Dr. Michèle Wessa vom Psychologischen Institut für eine solche Einrichtung an der JGU starkgemacht. Der JGU-Forschungsschwerpunkt Interdisciplinary Public Policy (IPP) zeichnet für den Betrieb des Labors verantwortlich. IPP-Leiter Schunk wiederum vertraut Labor-Manager Niklas Witzig, der im Bereich der Verhaltensökonomik promoviert: "Er organisiert und koordiniert die tägliche Arbeit im Labor und führt zugleich eigene Experimente durch."
Experimente zu Meinungsbildung, Kreativität und Stress
Ein Beispiel: Zwei Personen sollen insgesamt zehn Euro bekommen. Die eine darf entscheiden, wie das Geld aufgeteilt wird. Vielleicht möchte sie neun Euro behalten und bietet ihrem Gegenüber den Rest an. Vielleicht ist sie sogar noch etwas gieriger und hält ein paar Cent für ausreichend. Die andere Person kann nun zustimmen oder ablehnen. "Ist sie einverstanden, verteilen wir das Geld entsprechend. Platzt der Deal, bekommt niemand etwas", erzählt Schunk. Dieses bereits in den 1980er-Jahren eingesetzte Ultimatum-Spiel wird im MABELLA in verschiedensten Variationen durchgeführt. "Klassische ökonomische Theorien gehen immer davon aus, dass der Verteilende dem anderen lediglich einen minimalen Betrag zubilligen wird. Wir jedoch haben völlig andere Erfahrungen gemacht: Es geht ziemlich fair zu. Verteilungen von 5 zu 5 oder 6 zu 4 sind durchaus üblich."
Wer an den Versuchen im MABELLA teilnimmt, sieht sich verschiedensten Situationen ausgesetzt. Es kann zum Beispiel um Suchstrategien im Internet gehen: "Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen den besten Preis für ein bestimmtes Gut herausfinden. Allerdings kostet auch jeder Suchschritt Geld." Wie verhalten sie sich unter solchen Bedingungen? Halten sie ab einem bestimmten Schritt eine weitere Suche für unwirtschaftlich? "Dieses Experiment sagt uns einiges über das Agieren im Netz."
Ein weiteres Experiment, an dem das Institut für Informatik der JGU beteiligt ist, beschäftigt sich mit der Dynamik von Meinungsbildungsprozessen in Kommunikationsnetzwerken. "Wir möchten wissen, bei welchen Konstellationen sich in einer Diskussion am ehesten Polarisierungen ergeben und wie sie überhaupt zustande kommen. Dafür verschalten wir über unsere Computer jeweils fünf Personen beispielsweise hierarchisch oder anarchisch. Wir nennen das verschiedene Kommunikationstopologien."
Auch der Frage, wie sich Stress auf Kreativität und Innovation auswirkt, gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach: "Wir induzieren verschiedene Arten von Stress – das lässt sich mit den Computern recht einfach machen – und dann schauen wir, wie die Teilnehmenden reagieren. Wie verändert sich die Kreativität? Wann sind sie am kreativsten? Dabei messen wir auch die Herzfrequenzvariabilität und das Stresshormon Cortisol."
Konventionen und Ideologien auf dem Prüfstand
Es gibt bereits eine Unzahl an Modellen zum Entscheidungsverhalten. "Bei uns kommen sie auf den Prüfstand", meint Schunk. "Es gibt Leute, die vorhersagen, wie Menschen sich verhalten. Wir schauen, was Menschen wirklich tun. Und das kann mit dem passenden experimentellen Design hier jede und jeder tun, von jungen Doktorandinnen und Doktoranden bis zu Senior-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das hat etwas sehr Basisdemokratisches. Es kann Konventionen und Ideologien, die es auch in der Wissenschaft gibt, infrage stellen."
Doch dafür ist es wichtig, dass die Experimente seriös durchgeführt werden, dass alles nachvollziehbar bleibt. Nur so kann Grundlagenforschung funktionieren. "Genau deswegen haben wir MABELLA gegründet", bekräftigt Schunk. Auch er betreibt Feldforschung und sieht sie als komplementär zu seiner Forschung im Labor. "Aber die reale Umwelt ist eben voller unkontrollierbarer Faktoren. Im Labor dagegen können wir viele Parameter ausschalten, was für bestimmte Fragestellungen große methodische Vorteile hat." Es beginnt damit, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf eine relativ homogene Gruppe setzen: Nur Studierende können an den Experimenten teilnehmen.
Im Labor sind diese Studierenden möglichst von äußeren Einflüssen abgekoppelt: Sie kennen sich nicht persönlich und sie sitzen in der Regel in einer jener grauen Kabinen am Computer. Oft kommen die Anweisungen über den Bildschirm oder via Lautsprecher aus dem angrenzenden Steuerungsraum. "Wir haben ein eigenes Handbuch entwickelt, in dem wir sehr detailliert beschreiben, wie die Experimente durchzuführen sind. Alle müssen sich an vergleichbare Regeln halten. Nur durch feste Normen sind unsere Ergebnisse vergleichbar und unsere Versuche replizierbar."
Zudem gelten hohe moralische und ethische Standards. "Unsere Studierenden werden niemals hinters Licht geführt. Wir spielen mit offenen Karten. Und wenn sie etwa beim Verteilungsspiel Geld gewonnen haben, bekommen sie es tatsächlich ausgezahlt." Schunk gründete mit Kolleginnen und Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften der JGU und der Goethe-Universität Frankfurt am Main eine eigene Ethikkommission. "Jedes Experiment in unseren Fachbereichen wird dort ausführlich begutachtet."
MABELLA in Zeiten von Corona
Die Vision von einem Ort des interdisziplinären Austauschs ist Realität geworden: Im MABELLA treffen Medizinerinnen auf Soziologen, Psychologinnen auf Wirtschafts- und Sportwissenschaftler. Sie tauschen Ideen aus und erproben ihre Theorien. Aktuell steht ihnen ein Pool von 4.500 Studierenden zur Verfügung, insgesamt durchliefen bisher knapp 7.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer rund 50 Studien.
Anfang 2020 allerdings mussten sich alle auf eine völlig neue Situation einstellen: Die Corona-Pandemie und der folgende Lockdown legten den regulären Betrieb des Labors weitgehend lahm. "Wir mussten MABELLA erst mal schließen", erinnert sich Labor-Manager Witzig. "Später entwickelten wir mit unserer universitären Dienststelle für Arbeitsschutz ein eigenes Hygienekonzept, das uns erlaubte, zumindest einige wenige Experiment durchzuführen. Wir verfügen hier immerhin über fünf Räume, wir konnten also in jeden eine Person setzen."
Bald wird das Labor wegen Renovierungsarbeiten am Forum universitatis umziehen müssen. Doch bis dahin wird es hier angesichts gelockerter Regeln wieder geschäftiger zugehen. MABELLA hat sich etabliert. "Wir stehen allen Fachrichtungen offen", betont Schunk. "Wer eine gute Idee hat, kann gern zu uns kommen."