10. September 2020
Die Corona-Pandemie und der folgende Lockdown haben auch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) eine schnelle Umstellung auf rein digitale Lehre nötig gemacht. Eine Gruppe Studierender begleitet diesen Prozess: Prof. Dr. Stephan Jolie hatte Anfang 2020 die Gutenberg-Changemaker ins Leben gerufen, die den digitalen Wandel an der JGU mitgestalten sollen. Drei von ihnen berichten nun, wie sie zur Gruppe gekommen sind, was sie antreibt und wo sie Verbesserungsbedarf sehen.
"Durch Corona änderte sich alles superschnell", meint María de Lourdes Ortega Méndez. "Ich wollte im Sommer zum Beispiel meine Bachelorarbeit beenden, aber das ging nun nicht mehr so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Viele Studierende sind nach wie vor verunsichert in dieser völlig neuen Situation und ich finde es da besonders wichtig, dass gerade die Erstsemester Unterstützung bekommen, weil das für sie ja noch verwirrender ist als für die meisten anderen. Also dachte ich mir, ich nehme mir die Zeit und helfe, wo ich kann. Mir lag viel daran, dass das erste Corona-Semester klappt."
Ortega Méndez gehört zu den Gutenberg-Changemakern, einer Gruppe Studierender, die sich bereits Anfang des Jahres formierten. Sie haben seit Beginn des Sommersemesters im März die vorübergehende Umstellung auf digitale Lehre an der JGU, die im Zuge des Lockdowns unumgänglich wurde, begleitet.
"Ursprünglich kam der JGU-Vizepräsident auf die studentischen Gremien zu, weil sich die Universität 2019 für ein Peer-to-Peer-Programm qualifiziert hatte", erinnert sich Adrian Poot-Habisrittinger. Jedes Jahr unterstützt das Hochschulforum Digitalisierung sechs Universitäten darin, eine umfassende Strategie zu entwickeln, mit der die Digitalisierung in Lehre und Studium vorangetrieben wird. Diesmal war die JGU darunter. Da die Einbindung der Studierenden eine wichtige Komponente dieses Programms darstellt, bildete sich 2018 auf Bundesebene die Zukunfts-AG der DigitalChangeMaker. Die Gutenberg-Changemaker sind gewissermaßen deren lokales Pendant.
"Wir müssen gehört werden, deswegen engagiere ich mich"
Mit der Ausbreitung des Coronavirus allerdings sahen sich die Verantwortlichen der JGU völlig neuen Herausforderungen gegenüber: Wegen der Kontaktsperren wurde es nötig, innerhalb weniger Wochen möglichst viele Lehrangebote auf digitale Kanäle umzuleiten. Vizepräsident Prof. Dr. Stephan Jolie bildete ein Kompetenzteam Digitale Lehre, das diesen Prozess unterstützen sollte, und die Gutenberg-Changemaker zogen mit: "Mir war es ein Anliegen, dass dieses Kompetenzteam die Sicht der Studierenden in seine Arbeit hineinnimmt", sagt Poot-Habisrittinger. "Wir müssen gehört werden, deswegen engagiere ich mich in dieser ungewöhnlichen Lage als Changemaker."
Markus Vieth, der Dritte in der Runde, charakterisiert seine Motivation etwas anders: "Bei mir war es mangelndes Vertrauen. Viele der digitalen Veranstaltungen, mit denen ich in der Vergangenheit konfrontiert wurde, waren so … na ja! Ich wollte, dass eine Person, die sich tagtäglich mit dem Computer und der digitalen Welt auseinandersetzt, ihren Input gibt."
Vieth studiert Informatik an der JGU. Er gehört zur Fachschaft Mathematik und Informatik und sitzt in diversen universitären Gremien. Zudem ist er als studentische Hilfskraft in die Lehre involviert. Ortega Méndez steht kurz vor ihrem Bachelorabschluss in Spanisch und Mathematik auf Lehramt. Sie wurde als Juso-Abgeordnete ins Studierendenparlament (StuPa) gewählt. Unter anderem ist sie Mitglied der Fachschaft Lehramt und der Hochschulgruppe "Kreidestaub", die neue Impulse in die Lehrerausbildung bringen will. Poot-Habisrittinger arbeitet neben seinem Doppelstudium Politikwissenschaft und Öffentliches Recht beziehungsweise Sozialkunde und Philosophie auf Lehramt ebenfalls in vielen Gremien mit. Aktuell ist er Präsident des StuPa.
"Wir konnten alle drei bereits viel Erfahrung sammeln, wie wir studentische Anliegen am besten kommunizieren", sagt Poot-Habisrittinger. "Das hilft uns nun auch bei den Gutenberg-Changemakern. Ich bin überzeugt, dass wir gerade bei der Gestaltung der digitalen Lehre dringend gebraucht werden. Denn wenn wir unsere Anliegen vorbringen, bekommen wir nur allzu oft die Rückmeldung: Okay, das hatten wir gar nicht im Blick, daran haben wir nicht gedacht."
"Viel Kritik wartet noch darauf, umgesetzt zu werden"
Das klingt immerhin, als würden die Changemaker gehört. Vieth allerdings sieht das nicht ganz so: "Ja, von Einzelpersonen werden wir auf jeden Fall gehört", räumt er ein, "aber bei der Universität als ganzer sieht es schon etwas anders aus. Viel Kritik wartet noch darauf, umgesetzt zu werden. Wir würden zum Beispiel gern klären, welche Mittel Dozierende bei der digitalen Lehre einsetzen dürfen. Zurzeit ist eine Flut von Plattformen in Gebrauch, ohne dass wirklich geklärt ist, welche angemessen sind und wo der Datenschutz ausreichend garantiert ist."
"Ich stimme teils zu", sagt Ortega Méndez. "Wir haben eine sehr große Zahl Dozierender und sie gestalten ihre digitale Lehre, wie sie oder er es für richtig hält. Unter aktiver Beteiligung etwa versteht jeder etwas anderes. Es gibt Dozierende, die sehr offen sind, es gibt aber auch andere, wo man sich nach einer Veranstaltung denkt: Das hätte wirklich besser laufen müssen. Viele fragen zwar nach Feedback, um ihr Angebot zu verbessern, aber den meisten fehlt es einfach an Know-how, um wirklich etwas umzusetzen."
Die Hochschulleitung der JGU hat sich der Kritik der großen Zahl an verschiedenen Konferenzsystemen im vergangenen Sommersemester bereits angenommen. Im Wintersemester sollen ausschließlich die drei Plattformen BigBlueButton, Microsoft Teams und Skype for Business zum Einsatz kommen, um den Studierenden entgegenzukommen und nicht zuletzt auch aus Erwägungen des Datenschutzes heraus.
"Den Ausbildungsbedarf sehe ich auch sehr stark", stimmt Poot-Habisrittinger zu. "Da müssen wir mehr tun. Ein zweites Anliegen betrifft die Überprüfung der regelmäßigen Teilnahme an Veranstaltungen, die mit der Anerkennung der aktiven Teilnahme einhergeht: Wir denken bereits sehr lange, dass sie abgeschafft werden sollte. Studierende sind selbstständige, erwachsene Menschen. Warum müssen wir die kontrollieren? Gerade jetzt, wo beinahe alles digital läuft, halten wir das für nicht angemessen."
Grundsätzlich stellen die Gutenberg-Changemaker fest, dass die Umstellung auf rein digitale Angebote bei den Studierenden auf ein gemischtes Echo stößt: "Mathematik ist eine der klassischen Wissenschaften, in der wir die Tafel sehr vermissen", sagt Vieth. "Es gibt zwar Bemühungen, sie digital zu ersetzen, aber das ist schwierig. Vielen Studierenden fehlt auch die übliche Lehrumgebung, andere wiederum genießen die neue Freiheit." Poot-Habisrittinger führt aus: "Ich kann mir eine Passage aus einer Vorlesung einfach mehrfach anschauen. Ich kann mein Tempo wählen. Das ist ein Riesenvorteil. Ich gebe auch zu: Manchmal stelle
ich Videos auf doppelte Geschwindigkeit, wenn die Dozentin oder der Dozent zu langsam spricht."
"Oft findet in den Veranstaltungen keine Diskussion oder Reflexion mehr statt", nennt Ortega Méndez einen weiteren Kritikpunkt. "Das ist einfach weggefallen. Dabei leben gerade die Geisteswissenschaften vom Austausch. Außerdem glaube ich, dass der Workload zugenommen hat. Die Studierenden hatten mehr zu tun als in einem normalen Semester."
"Ich hoffe, dass wir uns auf dem Campus sehen"
Das alles sehen die drei vor dem Hintergrund, dass viele soziale Interaktionen wegfallen. "Wir als Fachschaft konnten unsere Gemeinschaftsräume nicht mehr nutzen", erzählt Vieth. "Wir haben zwar versucht, Alternativen zu bieten. Aber wer will schon nach einem anstrengenden Tag am PC auch noch an einem digitalen Spielabend teilnehmen?" – "Einfach mal gemeinsam Mittagessen zu gehen, fällt weg", sagt Poot-Habisrittinger. "Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber die Mensa fehlt mir."
"Ich habe Freunde, die unter Depressionen leiden", berichtet Ortega Méndez. "Sie brauchen den persönlichen Kontakt. Der Bildschirm kann das nicht ersetzen." Ortega Méndez selbst kam aus Mexiko nach Mainz. Ihr ist es wichtig, gerade die internationalen Studierenden im Blick zu haben. "Sie leiden besonders unter dem Wegfall persönlicher Kontakte – und haben auch sehr mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Deutschland ist sowieso schon ein teures Land, nun aber wird es immer schwieriger, ein Studium zu finanzieren."
"Viele Studierende sind im Moment in Not", erzählt Poot-Habisrittinger. "Sie haben ihre Jobs verloren, machen womöglich Schulden und müssen später noch mehr arbeiten, um sie abzubezahlen. Und was die Bundesbildungsministerin abgeliefert hat, um dem entgegenzuwirken, sehe ich schlicht als eine Frechheit. Ich hoffe, dass es politische Konsequenzen hat."
Auch hier gab es bereits eine Reaktion der Hochschulleitung. Auf Initiative der Studierenden und unterstützt vom Präsidenten hat der Senat der JGU in seiner letzten Sitzung eine Resolution zur sozialen Situation der Studierenden beschlossen, die sich kritisch mit den bundespolitischen Entscheidungen auseinandersetzt.
Auf die nächste Zukunft blickt das Trio mit gemischten Gefühlen. "Wir müssten jetzt damit beginnen, unsere Lehrenden systematisch weiterzubilden", fordert Vieth. "Sonst befürchte ich, dass einige im kommenden Semester sagen: Ich habe es mit der digitalen Lehre versucht, es hat nicht geklappt und nun lasse ich es." – "JGU-Vizepräsident Jolie und Präsident Krausch sind sich der Probleme schon sehr bewusst, sie wollen viel tun, lassen aber auch vieles noch offen", meint Poot-Habisrittinger. "Ich hoffe, dass wir zu einem Blended Learning kommen: Die großen Hörsäle werden wir nicht mehr so schnell füllen, aber wir müssen wieder zu einem persönlichen Austausch finden." – "Das kommende Semester wird sehr schwer", schließt Ortega Méndez. "Aber ich bin davon überzeugt, dass wir Lösungen finden, und ich hoffe, dass wir uns auf dem Campus sehen."