25. Februar 2019
Es ist über hundert Jahre her, dass eine Übersetzung von John Galsworthys erster Komödie "The Silver Box" im Deutschen erschien. Nun haben sieben Studierende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) im Zuge des innovativen Lehrprojekts "Interdisziplinäre Werkstatt für literarische Übersetzung" eine eigene Übertragung des Stücks vorgelegt: Mitte Februar ist "Das silberne Etui", herausgegeben von Dr. Maria Slavtscheva vom Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, erschienen.
Sie muss schnell noch ein paar Plakate aufhängen. "Damit alle gut zu uns finden", erklärt Dr. Maria Slavtscheva. Sie greift sich eine Rolle Klebeband, einige Poster und eilt nach draußen, während ihre Studierenden durch den Hörsaal der Alten Mensa wuseln: Sind die Scheinwerfer richtig ausgerichtet? Stehen die passenden Gläser auf dem Lesetisch? Gibt es genug Stühle fürs Publikum? Wird der Sekt reichen?
Eine szenische Lesung war ursprünglich nicht vorgesehen, Slavtscheva freut sich deswegen ganz besonders über diese Initiative ihrer Studierenden. "Damit haben wir unser Projekt zu 150 Prozent erfüllt", meint sie lächelnd und schneidet fleißig Klebeband zurecht. Die ersten Gäste trudeln bereits ein, bevor das letzte Plakat hängt. Dabei ist noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Beginn.
Interdisziplinäre Werkstatt mit Praxisnähe
Die Arbeit begann im Sommer 2018, in der Endphase des Semesters: Slavtscheva hatte für das Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ein neues Lehrformat entwickelt, eine "Interdisziplinäre Werkstatt für literarische Übersetzung". Sie wollte nicht, dass sich die Studierenden einfach irgendeinen Text vornehmen, der dann doch nur in der Schublade landen würde. "Es sollte eine Buchveröffentlichung folgen, das war mir wichtig. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten den gesamten Prozess miterleben und ihre Leistung selbst publik machen." Slavtscheva wollte ihnen zudem einen umfassenderen Blick in die Berufspraxis des Übersetzens vermitteln. Dazu holte sie mit Dr. Frank Heibert einen der prominentesten Literaturübersetzer in Deutschland als Gastlektor an die Universität. "Beides wäre ohne die Förderung des Gutenberg Lehrkollegs (GLK) der JGU nicht möglich gewesen. Es unterstützte unser Projekt großzügig."
Ohne die engagierten Studierenden allerdings wäre auch nichts daraus geworden. "Wir wussten, dass viel Arbeit auf uns zukommt", sagt Sarah Touihrat. "Aber es war machbar, wir hatten schließlich den ganzen Sommer über Zeit." Tatsächlich opferten die sieben einen großen Teil der vorlesungsfreien Zeit für das Projekt. "Wir hatten die Wahl zwischen zwei Galsworthy-Stücken", erzählt Viola Gresik. "'The Silver Box' schien das interessantere zu sein."
Es ist das erste Theaterstück des englischen Schriftstellers John Galsworthy. 1906 legte er die gesellschaftskritische Komödie um den Diebstahl einer feuerroten Geldbörse und eines silbernen Zigarettenetuis vor. Bereits diese beiden Gegenstände weisen darauf hin, in welche Richtung die Handlung geht: Der spätere Literaturnobelpreisträger Galsworthy nutzt den Kriminalfall, um ein Bild der verschiedenen Londoner Schichten zu zeichnen. Auf der einen Seite steht die feine Familie des liberalen Parlamentsabgeordneten John Barthwick, auf der anderen finden sich Mr. und Mrs. Jones als Vertreter der Arbeiterklasse. Wer hier tatsächlich fein oder ordinär, ehrenwert oder eher abgebrüht, wer heuchlerisch und wer verkommen ist, steht ab der ersten Szene zur Diskussion.
"Teck" und "Cracker" – Übersetzung im Detail
"Galsworthy nutzt verschiedene Soziolekte", erklärt Slavtscheva, "er stellt Hoch- und Alltagssprache gegenüber. Das war eine Herausforderung bei der Übersetzung." Auch galt es, den Humor des Texts zu erhalten. "Wir lasen zwischendurch Passagen unserer Version vor, um zu schauen, ob sie noch funktionieren. Die Lacher gaben uns Recht."
In einer ersten Phase bekam jeder Studierende zehn Seiten des Originals zugeordnet. "Wir sollten sie noch während des Semesters übersetzen", erzählt Lukas Dominik. "Das war etwas stressig." Danach ging es ins Blockseminar und zum Treffen mit dem hochkarätigen Gastlektor.
"Dr. Heibert fand es mutig, dass wir uns an einen älteren Text wagen", erinnert sich Slavtscheva. "Daraus ergeben sich nämlich durchaus Unterschiede." Der im Jahr 2017 mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnete DeLillo-, Queneau-, Saunders- und Reza-Übersetzer machte die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer auf viele Details aufmerksam. "Der junge Bachelor Jack zum Beispiel benutzt gern das Wort 'beastly', man kann fast von einem Leitmotiv sprechen: 'beastly tired', 'beastly thing', 'beastly headache'. Heutzutage würde man 'beastly headache' mit 'tierischen Kopfschmerzen' übersetzen, aber das passt nicht für die damalige Zeit. Deshalb entschieden sich die Studierenden am Ende für 'elend'."
"Wir fragten uns auch, wie sehr wir das Stück eindeutschen wollen", erzählt Touihrat. "Wir haben es dann so gelassen, dass man merkt: Okay es spielt um 1900 in London und nicht etwa in Berlin." Einge nicht mehr gebräuchliche Vokabeln machten den Studierenden zu schaffen, etwa der Begriff 'teck'. "Wir wälzten alte Wörterbücher und kamen darauf, dass 'Detektiv' gemeint ist", sagt Gresik. "Wir recherchierten viel, auch zum Essen und Trinken damals", ergänzt Ann-Kathrin Zettl. "Jack, der Sohn der Barthwicks, isst zum Beispiel 'cracker'. Wir überlegten, ob süße oder salzige Kekse gemeint sind. Hätten wir 'Cracker' geschrieben, wäre das festgelegt gewesen, wir entschlossen uns aber für eine bedeutungsoffene Version und blieben bei Keksen." Bedeutungsoffen sollte auch der Titel bleiben: In der deutschen Übersetzung von 1909 hieß das Stück "Der Zigarettenkasten", die Studierenden wählten dagegen "Das silberne Etui".
Viele Stufen bis zum Buch
"Ich hätte nicht gedacht, dass wir so detailliert arbeiten und wir praktisch jedes einzelne Wort diskutieren", erzählt Lena Schulte. "Einer der schwierigsten Schritte war, die verschiedenen Teilübersetzungen zu einem Ganzen zusamme
nzubringen. Wir diskutierten viel, aber auch sehr produktiv. Sicher half uns, dass die meisten von uns schon länger befreundet sind." Zeitweise arbeiteten die Studierenden in zwei Gruppen: Die eine kümmerte sich mehr um die Passagen mit den Barthwicks, die andere nahm sich die Jones vor. "Am meisten Spaß machte aber der letzte Teil, als wir alle zusammen daran arbeiteten", bemerkt Touihrat. Die Übersetzung stand als Google-Dokument im Netz, jeder konnte darauf zugreifen, kommentieren und Vorschläge machen.
Slavtscheva begleitete den Prozess auf allen Stufen, sie gab viel Input, ließ den Studierenden aber auch reichlich freie Hand. Zweisprachig aufgewachsen, ist sie mittlerweile selbst eine erfahrene Übersetzerin. 2006, mit gerade mal 20, übertrug sie Max Frischs Theaterstück "Andorra" zum ersten Mal ins Bulgarische. "Das Buch erschien, aber es gab leider keine Inszenierung." Während ihrer Promotion zur modernen Lyrik, im Rahmen derer sie viele bulgarische Dichter und Kritiker sowohl zum ersten Mal ins Deutsche als auch neu übersetzte, folgte die Ermächtigung vom Oberlandesgericht Koblenz zur Übersetzerin der bulgarischen Sprache für gerichtliche Angelegenheiten in Rheinland-Pfalz. Seit einigen Wochen arbeitet die Komparatistin an einem eigenen Übersetzungsprojekt zu Paul Celan, mit dem sie im April nach Straelen gehen wird.
Die zwei Semester umfassende interdisziplinäre Übersetzungswerkstatt ist Slavtschevas erstes großes, vom Gutenberg Lehrkolleg gefördertes Lehrprojekt. Für die Studierenden ist es die erste umfassende Übersetzungsarbeit und die erste Buchveröffentlichung. Und nun ist es Zeit für die erste szenische Lesung der Gruppe, für Julia Keller zugleich die erste dramaturgische Bearbeitung eines Stücks. Über 50 Gäste haben sich eingefunden.
Stippvisite in der Welt der feinen Leute
"London 1906: Wir befinden uns im Anwesen der Familie Barthwick", klingt es aus dem Dunkel. Mr. Barthwick (Sarah Touihrat) sitzt beim Dinner und sinniert: "Die unteren Klassen sind ihre eigenen Feinde. Wenn sie uns nur vertrauen würden, könnten sie sich so viel besser entwickeln." Mrs. Barthwick (Lukas Dominik), eine Dame mit sehr bestimmter Art, zeigt wenig Verständnis für die Gedankengänge ihres Gatten: "Ich kann deine Prinzipien nicht ausstehen." Und Sohn Jack (Viola Gresik) setzt sowieso andere Prioritäten: "Portwein bitte, Papa."
Gleich wird von der feuerroten Geldbörse und von dem Titel gebenden silbernen Etui die Rede sein, vom doppelten Diebstahl und von allerlei Verwicklungen. Doch das alles lässt sich wunderbar nachlesen, in der neu übersetzten Edition.